19/2000 | film-dienst
Brian de Palmas Eintrag ins „Reclam-Handbuch der Filmregisseure“ beginnt mit dem für eine Ehrung einigermaßen erstaunlichen Satz: „Wie ein Regisseur, der in erster Linie als Zweitverwerter bekannt wurde, zum Klassiker avancieren konnte, ist wohl nur rückblickend zu beurteilen.“ Was neben der Plattitüde, dass Filmgeschichte nur rückwirkend geschrieben werden kann, so viel aussagt wie: De Palma ist zwar ein bekannter Regisseur, aber er ist dennoch zu schmähen, weil er nur ein zweitklassiger Epigone ist. Diese Mischung aus Ehrung und Verachtung durchzieht fast alles, was über de Palma geschrieben wurde und wird - und anders als bei Alfred Hitchcock ist keine „Nouvelle Vague“ in Sicht, die an diesem Urteil etwas ändern könnte oder wollte. Weshalb hängt de Palma das Etikett vom „ewigen Epigonen“ so hartnäckig an? Warum gilt er heute als der verlorene Sohn New Hollywoods, als einer, der zwar das Talent für Einzigartiges gehabt hätte, der dann aber wie Swan in „Das Phantom im Paradies“ (1974) seine Seele an den Kommerz verkauft und aus seinen Gaben nie etwas Anständiges gemacht hat?
Die Maschine Kino
Brian de Palma hat immer betont, dass er sich als Schüler der Filmgeschichte sieht. Die „Grammatik des Film“ sei längst festgeschrieben, ihm bleibe nur noch die Aufgabe, deren Anwendung zu perfektionieren. In diesem Sinne ist er tatsächlich ein Epigone, aber immerhin einer aus Überzeugung. Als de Palma am 11. September 1940 als Sohn einer mittelständischen Familie in New Jersey geboren wurde, standen Regisseure wie Alfred Hitchcock, Howard Hawks und John Ford am Anfang ihrer fruchtbarsten Schaffensperiode. Aber als Jugendlicher interessierte sich de Palma nicht für Filme, sondern für Naturwissenschaften; mit 17 Jahren gewann er zwei Preise für sein Projekt „Die Anwendung von Kybernetik auf die Lösung von Differentialgleichungen“. Erst als Student entdeckte er das Kino, dem fortan seine ganze Leidenschaft galt, „weil ich nicht aus einer literarischen Tradition stammte. Weil unsere Tradition im Grunde technokratisch war. Wir lasen alle technischen Anleitungen, wir gingen nur aus, um Teile für unsere Maschinen zu kaufen“. Das Kino war die Maschine, deren Geheimnisse de Palma fortan enträtseln wollte, wie Pete in „Dressed to Kill“ (1980), der eigentlich einen Computer bauen will, schlussendlich aber einen Film produziert, der ihn auf die Spur des Mörders bringt, oder wie Robin in „Teufelskreis Alpha“ (1978), der jede Maschine derart verinnerlicht hat, dass er sie mental beherrschen kann. Erinnerungen an diese frühe - und offensichtlich anhaltende Technikbegeisterung - blitzen in vielen Filmen de Palmas wieder auf, auch in „Blow Out - Der Tod löscht alle Spuren“ (1981), „Mission: Impossible“ (1996) und „Spiel auf Zeit“ (1998).
Seine ersten Kurzfilme drehte de Palma zwischen 1960 und 1962, und sie waren, für einen Filmstudenten nicht überraschend, allesamt Stilübungen: „Icarus“, „660124 - The Story of an IBM Card“ und „Wotan’s Wake“. In seinem ersten Spielfilm „The Wedding Party“ (1964) tauchte dann jener Schauspieler auf, der seither zur physischen Verkörperung des New Hollywood geworden ist: Robert De Niro. „Murder à la Mode“ (1966) zeigt de Palma bereits bei seiner größten Leidenschaft: dem Ausloten der filmischen Grammatik. Ein Mord wird dreimal in drei verschiedenen Stilen gefilmt: Einmal aus der Sicht des Opfers als Lustspiel, dann aus der Sicht des männlichen Hauptfigur als Suspense-Thriller und schließlich aus der Sicht des Täters als Horror-Stummfilm.
Künstlerische Freiheit
Erst mit seinem dritten langen Film sorgte de Palma für Aufregung: „Greetings“ (1968) war einer der ersten Filme in den USA, der mit einem X-Rating belegt wurde, öffnete aber de Palma pikanterweise auch die Tore zu einem der großen Studios. Warner Bros. bot ihm „Hilfe, ich habe Erfolg“ (1970) an, ließ ihn aber ersetzen, als der Newcomer daraus statt eine leichtgewichtige Komödie eine überdrehte, bizarre Satire auf den „American Way of Life“ machte und zu keinerlei Kompromissen bereit war. Wenn de Palma heute als Kommerz-Regisseur geschmäht wird, dann übersieht man geflissentlich, dass er seine Filme fast immer dem Establishment abtrotzen musste und zumindest bis zu „Carlito’s Way“ (1993) stets ein Höchstmaß an künstlerischer Freiheit gesucht hat. Bis heute hat sich de Palma nie fest an ein Studio binden lassen.
Seinen kommerziellen Durchbruch hatte er mit „Die Schwestern des Bösen“ (1972), einer Hitchcock-Hommage bis in den Soundtrack hinein, der von Bernard Herrmann komponiert wurde.
Hommagen sind geradezu das Markenzeichen de Palmas: an Godard mit „Greetings“, an Antonioni mit „Blow Out - Der Tod löscht alle Spuren“, an Eisenstein und Leone mit „Die Unbestechlichen“ (1987), an Hawks mit „Al Pacino - Scarface“ (1983) und eben und immer wieder an Hitchcock. De Palma hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er inspiriert wird, dass er nacheifert, dass er klaut. Damit verbunden ist eine provokante Geringschätzung des eigenen Werks: „Ich drehe ja nur einen Film. Es ist nicht Shakespeare, es ist ein Film! Wenn er gut wird, umso besser. Wenn er nicht so gut wird: auf zum nächsten.“ Wer sich so despektierlich über seine eigenen Filme äußert und Kritiken damit unterläuft, bevor sie überhaupt laut werden können, der wird bei der Kritikerzunft nicht beliebt, auch, weil spätestens seit Truffauts Hitchcock-Buch das höchste aller Kritikergefühle darin besteht, einen verkannten Regisseur in den Olymp zu heben. Einer wie de Palma verunmöglicht aber genau das, und so etwas wird nicht verziehen: Er hat sich das Etikett vom zweitklassigen Epigonen selbst umgehängt - soll er nun auch für immer damit herumlaufen.
Die Leinwand aufbrechen
Aber wie in den meisten Filmen de Palmas, wo nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint, gibt es auch hier mehr zu entdecken, als man gemeinhin annimmt. Beispielsweise die hinreißenden Stummfilmszenen, die er immer wieder einbaut, und die oft zu den beängstigendsten Momenten seiner Filme werden. In „Carrie - Des Satans jüngste Tochter“ (1976) dreht de Palma den Ton immer in den genau richtigen Situationen ab und schafft damit einen wirkungsvollen Kontrast zum Inferno der Bilder. Oder seine legendären Schwenks, mit denen er die Szenerie einfängt. In „Teufelskreis Alpha“ (1978) hat Gillian eine Vision und findet sich plötzlich in deren Mittelpunkt wieder - das Kino wird dreidimensional und „Virtual Reality“ Wirklichkeit, lange bevor es Mode wurde. Oder Jack, der sich in „Blow Out - Der Tod löscht alle Spuren“ mit Hilfe einer Tonbandaufzeichnung in einen Raum imaginiert und diesen damit für den Zuschauer sichtbar macht. Das gleiche Ziel verfolgt im Grunde auch das „Split Screen“, die Aufteilung der Leinwand, wie es de Palma seit „Hilfe, ich habe Erfolg“ in nahezu jedem Film verwendet. Auch das „Split Screen“ dient im Grunde nur dem einen Zweck, die Leinwand aufzubrechen und zu einem dreidimensionalen Raum werden zu lassen.
Diesem Sichtbarmachen von Filmarchitektur gilt auch der „Overhead-Shot“, die senkrechte Aufsicht. In „Hilfe, ich habe Erfolg“ wird dadurch der Grundriss einer Wohnung und damit die Gefangenheit der Hauptfigur offenbar. Donald befindet sich in einem Labyrinth, aus dem es keinen Ausweg gibt. Überhaupt ist de Palma ein brillanter Filmarchitekt. Er liebt die langen, scheinbar ins Endlose führend Gänge, durch die er seine Kamera hindurchtreibt. Am aufregendsten und betörendsten gelingt ihm dies in der Museumsszene in „Dressed to Kill“. Der Flirt zwischen einer Frau und einem Mann wird in eine endlose Fahrt durch das Museumslabyrinth aufgelöst, ein Flirt voller Suspense, wo sich Jagd und Gejagtwerden virtuos abwechseln, wo man alsbald selbst die Orientierung verliert und das allmähliche Wiegen der Kamera im Einklang mit der zunehmenden Erregung von Hauptfigur und Zuschauer zunimmt. In der atemberaubenden zehnmütigen Steadycam-Fahrt ohne Schnitt, mit der „Spiel auf Zeit“ (1998) eröffnet wird, setzt de Palma nochmals einen drauf (auch wenn nachher ein schwacher Film folgt).
Ein Grundgesetz bei de Palma heißt, dass buchstäblich alles Film wird, auf geradezu paradigmatische Weise in „Blow Out - Der Tod löscht alle Spuren“, wo Jack aus Standbildern und einer Tonaufnahme einen Film montiert. De Palma mag ein Epigone sein, aber sein Ziel, das filmische Vokabular zu perfektionieren, hat er in wenigsten dieser Hinsicht zweifellos erreicht. Mit Hitchcock verbindet ihn nicht nur die filmische Grammatik, sondern auch das Weltbild. In ihrer pessimistischen Sicht auf eine lieblose Gesellschaft, die lieber zuschaut als handelt, sind die beiden offensichtlich Seelenverwandte. Aber während Hitchcock seinen Pessimismus mit moralischem Rigorismus und britischem Understatement tarnt, bleibt bei de Palma nur nackte Schäbigkeit und purer Zynismus zurück. Ob am Schluss „die Guten“ am Leben bleiben, ist unerheblich, weil niemand an einen Sieg „des Guten“ glaubt. Selbst bei einem Film wie „Die Unbestechlichen“, in dem schließlich das Gesetz gewinnt, mag man nicht an einen Triumph der Gerechtigkeit glauben: Die Katharsis hat ausgedient.
Beständiger Voyeurismus
Beständig dagegen ist nur der Voyeurismus, und vom menschlichen Leiden bleibt wie in „Blow Out - Der Tod löscht alle Spuren“ nichts weiter zu verwerten als ein guter Schrei in einem billigen Horror-Porno. Dieses Weltbild, das in „Schwestern des Bösen“ noch parodistisch überzeichnet und ironisch gebrochen wird, findet in „Der Tod kommt zweimal“ (1984) seinen logischen Endpunkt. Zwar ist dieser Film einer der inhaltlich widerlichsten und formal schwächsten de Palmas, gleichzeitig wird Voyeurismus nirgends so radikal demaskiert wie hier. Es bleibt nicht die kleinste Restmoral übrig, mit der sich unsere Schaulust rechtfertigen ließe. Seither ist de Palma scheinbar zahmer geworden und lässt sich hin und wieder sogar zu moralischen Appellen wie in „Die Verdammten des Krieges“ (1989) oder „Fegefeuer der Eitelkeiten“ (1990) hinreißen. Nur noch einmal gelingt ihm mit „Die Unbestechlichen“ (1987) ein Film aus einem Guss, zwar wieder eine Hommage - diesmal an Sergio Leone - , aber in ihrer technischen Brillanz eben doch ein „ganzer de Palma“. Aber nie mehr hat er auf so radikale und vielschichtige Weise unsere Sensations- und Schaulust bedient und zugleich entlarvt wie in seinen besten Zeiten zwischen 1972 und 1981.
Das Werk de Palmas mag eine Zweitverwertung der Filmgeschichte sein. Was ihn von anderen Regisseuren unterscheidet, ist zunächst die Ehrlichkeit, mit der er dies zugibt. Vor allem aber hat sich wohl kein anderer Filmemacher derart manisch und leidenschaftlich mit der ebenso tragenden und wie zwiespältigen Rolle des Voyeurismus fürs Kino auseinander gesetzt. Wer de Palmas Filme im Zusammenhang sieht, der kommt allmählich einem Paradox auf die Spur, das schon in „Greetings“ zum Ausdruck kommt, wenn der Voyeur Paul ein junges Mädchen dazu bringen will, sich vor laufender Kamera auszuziehen und ihr eintrichtert: „Denk’ daran, dass dies in wunderbarer, ganz intimer Augenblick ist.“
© Thomas Binotto