26/2000 | film-dienst
„Verschlinge deinen Nächsten!“ gegen „Liebe deinen Nächsten!“: Ab 1932 wurde dieser ewige Kampf in allen Filmen von Frank Capra ausgefochten, seitdem der amerikanische Regisseur und sein Drehbuchautor Robert Riskin beschlossen hatten, dass Schluss sein müsse mit dem Eskapismus, dem „rosigen Leben, das wir in unseren Hollywood-Kinos sahen und voneinander abkopierten.“ Außerhalb Hollywoods waren die „Goldenen Zwanziger“ längst vorbei und ganz so glänzend wie auf der Leinwand waren sie ebenfalls nie gewesen. Jetzt standen die Menschen nicht mehr für Filme, sondern für eine warme Mahlzeit Schlange. Capra erinnerte sich an seine Eltern, die italienischen Einwanderer, die sich ein Leben lang abgeschuftet hatten, und an seinen eigenen Aufstieg vom Zeitungsverkäufer zum erfolgreichen Filmregisseur. Für ihn war der amerikanische Traum wahr geworden - jetzt galt es, ihn zu verteidigen.
Denkmal für den „kleinen“ Mann
Mit „Der Tag, an dem die Bank gestürmt wurde„ („American Madness“, 1932) startete Capra seine Karriere als Regisseur des New Deal, jener von Präsident Franklin D. Roosevelt initiierten Bewegung, die mehr eine Revolution der Erwartungen als ein politisches Programm im strengen Sinne war. Capra drehte einen der ersten Filme, in dem die Ängste ernst genommen wurden, welche die Weltwirtschaftskrise ausgelöst hatte: Thomas Dickson (Walter Huston) ist ein seltsamer Bankdirektor, er leiht all jenen Menschen Geld, denen er vertraut: kreditwürdig ist, wer Charakter hat. Als durch die Wirren der Depression der Zusammenbruch seiner Bank droht, gerät er in Bedrängnis. Doch als genau jene „kleinen“ Leute, denen er so freizügig Kredite eingeräumt hatte, in einer Solidaritätsaktion zur Bank eilen, um ihr Bargeld anzulegen, kann der Bankrott in letzter Sekunde abgewendet werden. Damit beginnt die ertrag- und erfolgreichste Phase in Capras Schaffen, die mit „Ist das Leben nicht schön?“ („It’s a Wonderful Life“, 1947) und einem neuerlichen Sturmlauf auf eine Bank ihren legendären Abschluss fand, als nochmals ein Bankier mit Herz gerettet wurde, weil „kein Mensch ein Versager ist, der Freunde hat“. Dazwischen liegen zehn Filme, zehn Publikumserfolge, die es Capra mehr und mehr erlaubten, sein Motto „One man, one film“ durchzusetzen. Capra hatte die vollständige Kontrolle über seine Filme. Wie Gary Cooper in „Mr. Deeds geht in die Stadt“ („Mr. Deeds Goes to Town“, 1936) wollte er „viel Gutes zu tun, deshalb muss ich die Geschäfte durchschauen“.
Tatsächlich hat Capra dem „kleinen“ Mann von der Straße einige der schönsten Denkmäler der Filmgeschichte gesetzt - damals, als es den Tycoons gar nicht so schlecht ging, weil sie auf der richtigen Seite standen, wie der Waffenfabrikant Anthony P. Kirby in „Lebenskünstler“ („You Can’t Take It With You“, 1938), als die Arbeiter und Farmer für den Börsenkrach die Zeche bezahlten und Roosevelt konstatierte, dass ein Drittel der Nation „schlecht untergebracht, schlecht gekleidet und schlecht ernährt“ war; damals, als der New Deal noch eine Vision mit Zukunft war. Ein Denkmal hat Capra übrigens auch Roosevelt gesetzt. In „Lebenskünstler“ spielt der von Arthritis gezeichnete Lionel Barrymore das Familienoberhaupt Vanderhof, für den gilt, was Capra über Roosevelt sagte „Sein größter Aktivposten war die Art, wie er jedem - egal, wer oder was er war - das Gefühl vermittelte, wichtig zu sein. Er erreichte das hauptsächlich dadurch, dass er ein großartiger Zuhörer war.“ Genau wie Roosevelt ging auch Barrymore mit ungeheurer Willensanstrengung an Krücken und wollte von seiner Behinderung, die in kurz darauf endgültig in den Rollstuhl zwang, kein Aufhebens machen. In Vanderhofs Haus braucht niemand Angst zu haben, oder, wie es Roosevelt ausgedrückte: „Das einzige, was wir fürchten müssen, ist die Furcht selbst.“
Sprachrohr der Geschundenen
Das erste Denkmal für den „kleinen“ Mann war jedoch weiblich: In „Lady für einen Tag“ („Lady for a Day“, 1933) gab Capra dem klassischen Symbol der Depression, dem notdürftig als Apfelverkäufer getarnten Bettler, mit May Robson Gesicht und Würde: Apfel Annie, die heruntergekommene Säuferin wird mit der Hilfe eines Gauners, einer Nachtclubsängerin und eines Spielers zur „Dame auf Zeit“. In einer Schlüsselszene des Films verschwindet Annie als Bettlerin im Ankleidezimmer und kehrt als Dame der besten Gesellschaft zurück - so klein ist der Unterschied zwischen arm und reich, zwischen verlacht und angesehen. Der Klassenunterschied - ein Wimpernschlag. Dieses Märchen vom Aschenputtel hat Capra immer wieder von neuem erzählt, vom Tubabläser Longfellow Deeds, der über Nacht zum Millionär wird, vom Pfadfinder Jefferson Smith, der unversehens im Senat landet, vom Landstreicher John Doe, der zum Sprachrohr der Geschundenen wird. Wunder sind selten, aber nicht unmöglich, und bei Capra bleibt eine Münze, die in die Luft geworfen wurde, auch mal auf der Kante stehen. Ein Wunder ist es auch, dass Capra die Gratwanderung zwischen Sentimentalität und Anklage fast immer gelingt, weil er besaß, „was der witzige Playboy Lubitsch nicht hat: Verantwortungsgefühl - weil er hat, was Clair, schrullig, poetisch, ein wenig maliziös und modisch, wie er ist, nicht hat: einen direkten Draht zu seinem Publikum, einen Sinn für das alltägliche Leben und die Gerechtigkeit - und weil er sogar etwas hat, was Chaplin nicht hat: die komplette Beherrschung des Mediums und zwar des Tonfilms, der bei ihm nicht ein Film mit angeheftetem Ton ist.“ Geschrieben hat das Graham Greene in seiner Kritik zu „Mr. Deeds geht in die Stadt“.
Damit Capras Sozialmärchen funktionierten, brauchte es die vollkommene Verkörperung des reinen Toren, des aufrechten Amerikaners. Er fand ihn gleich zweimal: einmal in Gary Cooper und dann in James Stewart. Beide sind pure Integrität und das umso glaubwürdiger, als sie ebenso knabenhaft wie gerissen, ebenso unschuldig wie scharfsinnig sind. Deeds (Gary Cooper) entlarvt einen windigen Anwalt genauso schonungslos, wie er in kindlicher Unschuld mit dem Echo im Treppenhaus spielt. Capras aufrechte Kämpfer für die gute Sache sind keine demütigen Schafe; auf Spott reagieren sie schon mal mit der bloßen Faust - und gewinnen damit erst recht die Sympathie der Zuschauer. Sie sind Helden ohne Heiligenschein, denn „Filme über Lincoln, über Heilige oder über Christus sind gefährlich. Die Produzenten gehen mit allzu großer Ehrfurcht an solche Personen heran, und den Schauspielern wachsen Glorienscheine, lange bevor sie sich diese verdient haben.“ Auch Clark Gable in „Es geschah in einer Nacht“ („It Happened One Night“, 1934) gehört zu dieser Sorte. Er ist zwar eine verkrachte Existenz, dem Alkohol nicht abgeneigt, aber grundehrlich und das allein zählt. Er stellt 39 Dollar und 60 Cents für den Unterhalt der davongelaufenen Millionärstochter in Rechnung, während beim geschniegelten Playboy die Verliebtheit schon verfliegt, wenn man mit 100.000 Dollar Abfindung winkt. Angesichts der Aufrichtigkeit von Capras „kleinen“ Männern geht es den Zuschauern wie Jean Arthur in „Mr. Smith geht nach Washington“ („Mr. Smith Goes to Washington“, 1939): Zynismus, Missmut und Gleichgültigkeit schwinden angesichts von Männer, die „nur für die hoffnungslosen Fälle kämpfen, weil es sich nur für diese zu kämpfen lohnt“. Dieser unerschütterliche Glaube an Gerechtigkeit, Freiheit und Nächstenliebe hat in Capras Filmen etwas derart Großartiges an sich, dass man weinen muss, weil man glauben möchte und bei Capra endlich glauben darf.
„Social Comedys“
„Glauben sie an Märchen?“ ist die entscheidende Frage in „Lady für einen Tag“. Wer darauf mit „Nein“ antwortet, der wird nicht nur Apfel Annie im Stich lassen, er sitzt bei Capra auch in den falschen Filmen, denn Märchen sind sie allesamt. Das hat ihm bis heute viel Kritik und Geringschätzung eingetragen. Bereits „Der Tag, an dem die Bank gestürmt wurde“ löste in Finanzkreisen heftige Diskussionen aus, wobei die Meinung vorherrschte, dass hier einer seine naive Unwissenheit in eine naive Komödie verpackt hatte. Wie man aber gerade mit den Mitteln der Komödie soziale Anliegen transportieren kann, demonstrierte Capra selbst in einer scheinbar harmlosen Screwball-Comedy wie „Es geschah in einer Nacht“. Zunächst demonstriert Clark Gable mit großer Geste, wie man einen Donut fachmännisch in den Kaffee tunkt, doch schon weniger später ist es die gelehrige Schülerin Claudette Colbert, die mit eleganter Beinbewegung ein Auto zum Stehen bringt. Womit auch klar ist, dass die „Mauern von Jericho“, die nicht nur die Geschlechter, sondern auch die Klassen trennen, fallen werden - und für ???? wird erfrischenderweise der Standesdünkel des „kleinen Mannes“ vorgeführt.
Fortan verließ Capra das Feld der Komödie nur noch einmal, als er mit „In den Fesseln von Shangri-La“ („Lost Horizon“, 1937) die Utopie einer vollkommenen Gesellschaft beschwor. Damit tappte ausgerechnet er in die Heiligenscheinfalle, vor der er selbst gewarnt hatte. Bei seiner Erstaufführung war „In den Fesseln von Shangri-La“ zwar beim Publikum wie bei der Kritik ein Erfolg. Heute aber wirkt der Film kraftlos, als vollendet langweiliges Capra-Land, wo gleich ein ganzes Tal im Glorienschein erstrahlt. Ein Film, der mit dem Happy End beginnt und dieses auf mehr als zwei Stunden ausdehnt - Pathos ohne Witz und Understatement und darum nur ein halber Capra. Die Gegenwelt, welche Capra in „In den Fesseln von Shangri-La“ ungebremst aufbaute und die in jedem seiner Filme spürbar ist, diese Oase des gesunden Menschenverstandes, wurde im Laufe der Jahre immer brüchiger, der New Deal verlor an Kraft, die Lage in Europa wurde immer bedrohlicher. Waren es in „Mr. Deeds geht in die Stadt“ noch die geldgierigen Verwandten und Anwälte, die aus persönlichen Motiven dem Helden ans Zeug wollten, ist es in „Lebenskünstler“ schon ein mächtiger Waffenhändler, der ein freiheitsberaubendes Monopol aufbauen will. In „Mr. Smith geht nach Washington“ hat längst die Wirtschaft das Diktat übernommen, die den Senat nach ihrer Pfeife tanzen lässt. Mit „Hier ist John Doe“ („Meet John Doe“, 1941) schliesslich ist die schrankenlose Manipulation der Massen zur Tatsache geworden. Der heilige Georg kämpft zwar so tapfer wie eh und je, doch die Drachen werden immer mächtiger. Capra war an die Grenze dessen gelangt, was eine Komödie aushält. Er und Robert Riskin suchten verzweifelt nach einem Schluss; insgesamt drehten sie fünf verschiedene Enden, von denen keines vollends befriedigte. „Der heilige Georg kämpfte mit dem Drachen, tötete ihn und wurde selbst getötet.“ Dennoch durfte der Film nicht mit dem Tod John Does enden und so wurde es wie nie zuvor oder nachher deutlich, welche Anstrengung es inzwischen selbst Capra kostete, an Märchen zu glauben.
Mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg war der New Deal endgültig Geschichte, auf „Dr. New Deal“ folgte „Dr. Win-the-War“. Capra kehrte Hollywood vorübergehend den Rücken und produzierte in der Armee Dokumentarfilme. Vorher allerdings kurbelte er noch schnell einen Film herunter, nichts Besonderes, nur ein sicherer Erfolg, der seine Familie über die Kriegsjahre retten sollte. Dass „Arsen und Spitzenhäubchen“ („Arsenic and Old Lace“, 1941) zum Kultfilm avancierte, war nicht geplant. Als Capra 1945 aus der Armee entlassen wurde, war er in Hollywood ein Fremder. Zwar hielt er mit George Stevens und William Wyler nochmals das Fähnlein der Unabhängigen hoch, als er „Liberty Films“ gründete. Deren Symbol war bezeichnenderweise eine gesprungene Glocke, als ahnte Capra, was auf ihn zukommen würde. „Hollywood-Filme wurden durch den Geschmack von einem halben Dutzend Studiochefs gefiltert, und die Filmemacher holten sich ihre Ideen nicht aus dem Leben, sondern klauten sie sich gegenseitig. Statt Neues zu schaffen, bespiegelten wir uns nur noch selbst.“ Die Zeiten der unabhängigen Produzenten waren vorbei, das Konzept „One man, one film“ wurde abgelöst durch „No star, no film“.
„Ist das Leben nicht schön?“ wurde Capras Abgesang - obwohl bis 1961 noch fünf weitere Filme folgten. Capra flüchtete sich endgültig ins Märchen und reanimierte den lebensmüden George Bailey, der dem Drachen eigentlich schon unterlegen war. Von Globalisierung konnte Capra noch nichts wissen, obwohl er die New Economy dennoch durchschaut hatte, weil sich die „Verschlinger“ seit damals nicht geändert haben: „Sie glauben, alles ließe sich kaufen.“ Das Streben nach dem Monopol ist seit „Lebenskünstler“ nicht kleiner geworden. Dass der kleine Mann Freunde hat und der Reiche Anwälte, das ist auch bei Bush und Gore nicht anders. Der lange Arm der Wirtschaft würde Senator Smith auch heute noch mindestens eine Dauerrede abringen. Auch der Versuch eines Präsidentschaftskandidaten, Gerüchte über eine Liaison mit einer Wahlkampfhelferin dadurch einzudämmen, das er seine treuliebende Ehefrau in den Wahlkampf einspannt, ist seit „Der beste Mann“ („State of the Union“, 1948) längst mehrfach Wirklichkeit geworden. 1961 war für Capra mit der Filmerei endgültig Schluss. Er starb 1991 hochbetagt in Kalifornien. Die Frage „Glauben sie an Märchen?“ hingegen wird heute immer noch und immer wieder gestellt, inzwischen aber vornehmlich im britischen Kino, in „Brassed Off - Mit Pauken und Trompeten“, in „Ganz oder gar nicht“ oder jüngst in „Billy Elliot - I Will Dance“.
© Thomas Binotto