28. Januar 2005 | Neue Zürcher Zeitung
Wenn die ersten frostigen Nächte den Winter ankünden, wenn der Wind nicht mehr erfrischend sondern eisig weht, wenn es da Draussen unheimelig wird, dann ziehen wir uns in schützende Räume zurück. Bei der gutbürgerlichen Familie Graf bläst der Nordwind auch im übertragenen Sinn in alle Ecken: Erwin verliert nach zwanzig Jahren seine Stelle im Zuge einer Neustrukturierung. Er verheimlicht zu Hause seine Kündigung, bezieht im Billighotel an der Raststätte ein „Scheinbüro“ und versucht der beruflichen Katastrophe zum Trotz den lang ersehnten Haustraum zu verwirklichen. Kathrin leidet unter Angstzuständen, fröstelt vor Einsamkeit und droht an ihren nicht entfalteten Talenten zu ersticken. Die gemeinsame Tochter Lisa soll sich für eine Lehre entscheiden, obwohl sie eigentlich am liebsten die Modefachklasse der Kunstgewerbeschule besuchen würde, wenn sie nur den Mut aufbrächte, den Eltern ihre geheimen Wünsche zu offenbaren.
In ihrer Not bleiben alle allein, niemand vertraut dem anderen, jeder zieht sich in seinen schützenden Panzer zurück, ohne dort allerdings Geborgenheit und Sicherheit zu finden: Kathrins Kopf- und Rückenschmerzen werden immer stärker, Lisa fügt sich heimlich Schnittwunden zu, und Erwin verzweifelt still und leise vor sich hin.
Bettina Oberli hat ihre Geschichte in „der gegenwärtigen Schweiz“ angesiedelt, „zu einer Zeit, in der die New Economy auch dieses einst so sichere Land erschüttert.“ Mit grosser Sorgfalt und Präzision komponiert sie gemeinsam mit Kameramann Stéphane Kuthy ihre Bilder. Ihr Spielfilmdebüt „Im Nordwind“ ist deshalb vor allem ein bildstarkes Werk geworden. Von einer Schönheit allerdings, die sich nie zum Selbstzweck aufbläst. Auf dieser, der eigentlich filmischen Ebene, gelingen „Im Nordwind“ die intensivsten und einprägsamsten Momente. Immer wieder stehen die Figuren hinter Glas, blicken durch Fenster, spiegeln sich darin es ist ein zerbrechlicher Panzer, in dem sie Zuflucht suchen, ein Glashaus, das sie vor dem rauen Wind schützen und gleichzeitig die Illusion vermitteln soll, man nähme dennoch am Leben teil. Eine Konstruktion, die gleichzeitig Schutzbedürfnis, Lebensangst, Scheinwelt und Fragilität ausdrückt und die selbstverständlich nicht von Dauer ist. Am Schluss wird das Glas splittern, werden die Schutzräume brutal aufgerissen.
In diesem Kern bewegt sich Oberlis Film virtuos, gelingt das Kunststück, eine glaubwürdige Geschichte zu erzählen, die ganz natürlich fliesst, ohne dabei Schuldzuweisungen und Moralismus zu streifen. Hier kann sich Oberli neben ihrer Bildsprache auch auf das überzeugende Dreierensemble mit André Jung, Judith Hofmann und Aiko Scheu verlassen.
Ihnen allen gelingt ein Kammerspiel, das die Innenseite der „New Economy“ ausleuchtet, und bezeichnenderweise nur dann Schwächen zeigt, wenn dieses Gravitationszentrum verlassen wird. Episoden wie die Entlassung Erwins durch einen karikaturenhaft überzeichneten Chef wirken plakativ und gerade im Vergleich zu dem, was sich im Kern des Dramas abspielt, hölzern und lehrerhaft. Dennoch ist „Im Nordwind“ mehr als eine Talentprobe ein bereits eingelöstes Versprechen für die Zukunft.
© Thomas Binotto