10. März 2005 | Neue Zürcher Zeitung
Innert kürzester Zeit ist Julia Jentsch zum neuen weiblichen Star des deutschen Films geworden. Für ihre Darstellung von Sophie Scholl hat sie an der diesjährigen Berlinale den Silbernen Bären geholt. Und für einmal kann man die Prognose ruhig wagen: Hier handelt es sich nicht um eine Sternschnuppe.
Wenn man Julia Jentsch in diesen Tagen begegnet, ist man zunächst einmal erleichtert. Nein, hier sitzt man nicht einem Klon Sophie Scholls gegenüber. Selbst die viel beschworene Ähnlichkeit der Gesichtszüge ist nicht derart ausgeprägt wie erwartet. Julia Jentsch ist ganz offensichtlich immer noch sich selbst, was ihre herausragende schauspielerische Leistung nur noch unterstreicht. Für diese Rolle hat sie nicht einfach das Gesicht hingehalten sondern ihr ganzes Können aufgeboten.
Dass ihr die Anstrengung dennoch nicht anzumerken ist weder im Film noch jetzt im Gespräch macht verständlich, weshalb sie fast auf Ansage zum Star der diesjährigen Berlinale wurde. Diese 27jährige Frau muss still und heimlich irgendwo in sich einen ausserordentlich leistungsfähigen Motor laufen haben, dem auch Berlinale-Stress und Medienrummel wenig anhaben können so wenigstens hat es noch beim x-ten Interview den Anschein.
Obwohl Julia Jentsch bereits vor fünf Jahren in Judith Kennels „Zornige Küsse“ ihr Kinodebüt gegeben hat, obwohl sie bereits eine ansehnliche Laufbahn im Theater hinter sich hat, trotz alledem ist nichts von Starallüren zu spüren. Es ist allerdings auch noch nicht lange her, dass sie so hoch gehandelt wird. Gerade mal zwei Filme haben genügt, um Julia Jentsch in die vorderste Reihe zu katapultieren: „Die fetten Jahre sind vorbei“ von Hans Weingartner und „Sophie Scholl Die letzten Tage“ von Marc Rothemund, für den sie jetzt als Botschafterin nach Zürich gekommen ist.
Man nimmt Julia Jentsch bereitwillig ab, dass ihr diese Rolle mehr bedeutet als ein Sprungbrett in neue Sphären. „Zunächst war es das Drehbuch, das mich gepackt, berührt, traurig und zornig zugleich gemacht hat. Am liebsten hätte ich in die Geschichte eingegriffen: Das kann und darf doch nicht wahr sein, dass junge Menschen für etwas hingerichtet werden, was uns heute als selbstverständliches Recht erscheint. Und dann war ich natürlich als Schauspielerin neugierig, ob es mir gelingen würde, der Person Sophie Scholl nahe zu kommen, jemandem, der derart entschieden einen eigenständigen Weg gegangen ist. Die Ideale und Werte, für die sie in den Tod gegangen ist, sind zeitlos, und deshalb ist es so wichtig, sie immer wieder zu benennen. Sophie Scholl wollte ein Zeichen setzen und unser Film soll dieses Zeichen auch in unserer heutigen Zeit sichtbar machen.“
Wer Julia Jentsch als Sophie Scholl gesehen hat, und sie über ihre Rolle sprechen hört, wird sich hüten, hinter diesem Bekenntnis naive Begeisterung oder merkantiles Kalkül zu vermuten. Auch wenn ein Schauspielerkollege sie „gar keine richtige Schauspielerin“ nennt, und er sie mit diesem Kompliment zu Recht vom blutleeren Ausstoss „trister Schauspielschulen“ abheben will Julia Jentsch ist zweifellos nicht nur eine begabte sondern auch eine echte Schauspielerin, die sehr genau weiss, was sie tut und weshalb. Der silberne Bär ist ihr nicht einfach in den Schoss gefallen, den hat sie sich redlich verdient.
„Es hat zwar schon geholfen, dass ich mir Sophie Scholl als normale junge, lebensfreudige Frau vorstellen konnte, aber gleichzeitig war ich mir bewusst, dass ich mir das, was sie in ihren letzten Tagen durchlebt hat, nicht wirklich vorstellen kann. Beim Versuch, diese Distanz zu überbrücken, bin ich immer wieder an Grenzen gestossen. Während für mich die Angst nur ein Spiel ist, war sie für Sophie Scholl wirklich da. Wenn ich ihre Gefühle darzustellen versuchte, dann sollten sie nie zu klein sein aber auch nicht zu gross.“
Dass sie gleichzeitig zu den Dreharbeiten weiterhin Theater gespielt hat, sieht Julia Jentsch nicht nur als zusätzliche Belastung. „Es hat sicher geholfen, dass ich meine Bühnenrolle vorher wochenlang einstudiert habe. Dadurch konnte ich am Abend leichter in die Rolle hineinfinden. Manchmal war es sogar eine willkommene Abwechslung zum Dreh, wenn ich mich beispielsweise nach einem Tag in klaustrophobischen Gefängnisräumen auf der Bühne freier bewegen konnte. Und paradoxerweise wurden oft gerade aus der Erschöpfung heraus neue Kräfte mobilisiert.“
Sophie Scholl ist zweifellos eine Traumrolle, birgt aber gerade deshalb ihre eigenen Gefahren. Lena Stolze, die sie vor zwanzig Jahren gleich in zwei Filmen verkörpert hat, ist heute praktisch nur noch als „Sophie Scholl“ bekannt. Dass dieses Schicksal auch sie treffen könnte, ist sich Julia Jentsch bewusst. „Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass irgend jemand ein Interesse daran haben kann, mich nun in immer ähnlich angelegten Rollen zu sehen. Ich als Schauspielerin habe jedenfalls Lust auf Abwechslung und möglichst unterschiedliche Rollen. Selbst wenn mich Schauspielerkollegen vor der Gefahr einer Fixierung auf diese Rolle gewarnt haben, dieser Film war das Risiko wert.“
Noch immer ist Julia Jentsch ganz sich selbst. Aber ihre ansteckend fröhliche Ernsthaftigkeit und ihr offener, unverstellter Blick machen dann doch klar, weshalb ihre Interpretation der Sophie Scholl ein Kinoereignis geworden ist.
© Thomas Binotto