2004 | Inklings - Jahrbuch für Literatur und Ästhetik
Mit der Comicfigur „Tim“ ein Referat über den „Herrn der Ringe“ zu beginnen, mag auf den ersten Blick abwegig wirken. Aber wie kaum eine andere Figur der Populärkultur verkörpert „Tim“ exemplarisch das, was unter „Leerstelle“ in diesem Zusammenhang unter anderem zu verstehen ist:
Tim, der unerschrockene Reporter aus der Feder des Belgiers Hergé, sieht nicht nur wie eine staunend-frohnaturige Null aus, er ist auch tatsächlich ein Nichts: Tim altert nie, kennt weder Herkunft noch Zukunft, frönt keinem Laster, nicht einmal der Ehe, ist von Beruf Reporter, aber von einer Redaktion, auf der er seine Beiträge abliefert, ist nie auch nur das geringste zu sehen. Außer einem gewissen Maß an Gewitztheit ist er biederster Durchschnitt. Aber gerade dank dieser Farblosigkeit kann Tim als blanke Leinwand dienen, als reine Projektionsfläche ausschließlich dazu da, Abenteuer zu erleben, mit Bedacht konturlos gezeichnet, damit sich jeder von uns in seine Haut versetzen und an seine Stelle treten kann.
Das einzige Außergewöhnliche an Tim ist seine Entourage: Ein fluchender und saufender Kapitän, ein vertrottelt-genialischer Erfinder, zwei unfähige Detektive, eine kreischende Sängerin, sogar sein Hund Struppi ist abgründiger als Tim. Der rasende Reporter ist eine Leerstelle, nur dazu da, uns den Platz für atemberaubende Abenteuer freizuhalten.
Frodo Beutlin ist genau wie Tim eine Leerstelle, sogar die alles entscheidende im „Herr der Ringe“: Frodo hat keinen Beruf, Frauen spielen in seinem Leben keine Rolle, von seinem Vater heisst es, „ein grundanständiger Hobbit war er, der Herr Drogo Beutlin; über den gab es nie viel zu reden.“ (Tolkien, 38)[i] Nicht einmal als Dichter wie sein Onkel Bilbo tut sich Frodo hervor. „Er spürte nur selten einen Drang, Lieder und Reime zu machen; und auch in Bruchtal hatte er nur zugehört und nicht selber gesungen, obwohl er vieles auswendig kannte, das andere gedichtet hatten.“ (Tolkien, 386)
Als Frodo knapp dem Tod entronnen in Bruchtal zur Genesung liegt, meint er verwundert: „Es ist doch wunderbar, dass große Herren wie Elrond und Glorfindel, um von Streicher gar nicht zu reden, meinetwegen solche Umstände machen und mich so freundlich aufnehmen.“ Worauf ihm Gandalf freundlich vor Augen führt, dass das Besondere an ihm allein seine Funktion sei, nicht seine Person. Gandalf antwortet: „Na, dafür haben sie allerlei Gründe.“ […] „Ein guter Grund bin ich. Ein zweiter ist der Ring: du bist der Ringträger. Und du bist Bilbos, des Ringfinders, Erbe.“ (Tolkien, 248) Nicht Frodo ist außergewöhnlich, sondern sein Auftrag, und nicht einmal den hat er selbst gewählt, vielmehr hat dieser ihn erwählt.
Auch Frodo wird damit zur Leinwand, auf der sich das Drama abspielt. Dank dieser Leerstelle kann unser Ego erst richtig in das Epos eintauchen und darin jenen Raum finden, den schließlich wir, nicht etwa der Autor, mit Fantasie ausfüllen.
Und genau wie Tim ist auch Frodo von schillernden Figuren umgeben: Gandalf, Aragorn, Gimli, Legolas, Gollum, ja selbst Sam sind als Personen interessanter. Gerade deshalb war die Besetzung Frodos in Peter Jacksons Verfilmung von herausragender Bedeutung. Mit Elijah Wood hat er genau jenes Milchgesicht mit den großen, staunenden Augen gefunden, das uns auch im Film den Platz frei hält. Frodo darf sich unter keinen Umständen in den Vordergrund spielen, weil sonst für uns Zuschauer in der Ringgemeinschaft kein Platz bliebe.
Die Leerstelle spielt im „Herr der Ringe“ und notabene in jedem gelungenen Fantasy-Roman eine entscheidende Rolle. Erst sie erlaubt es den Lesern, die eigene Fantasie in Gang zu setzen und auszuschöpfen. Fantasie realisiert sich letztlich erst in unseren Köpfen falls es der Fantasy gelingt, die nötigen Anreize dafür zu schaffen.
Dialoge von shakespearscher Eleganz und Differenziertheit wird man dagegen vergeblich suchen, raffiniert gestaffelte Seelenlandschaften gehören nicht in die Fantasy-Literatur. Damit steht Tolkien, durchaus mit Absicht, ganz in der Tradition grosser Mythen- und Märchenerzählungen. Auch dort sind Dialoge und Psychologisierung Fremdkörper, und die Selbstinterpretation bedeutet den Tod jeglicher Poesie.
Exakt an der Leerstelle scheitern aber die meisten Fantasy-Verfilmungen. Die Versuchung, genau das auf die Leinwand zu bringen, was im Roman dem Leser überlassen wird, ist in der Illusionsmaschine „Kino“ groß. Wenn man ihr verfällt, geschieht zwangsläufig, was nicht geschehen darf, dass sich nämlich die Fantasie auf der Leinwand und nicht in unseren Köpfen breit macht.
Ein Beispiel dafür sind die durchaus unterhaltsamen Harry Potter-Verfilmungen, wo jeder Quadratzentimeter Leinwand mit Fantasy zugekleistert wird sozusagen ein gigantisches Panini-Klebealbum.[ii]
Bereits die unzähligen Versuche, Tolkiens Epos mit unbewegten Bildern zu illustrieren, legen in erster Linie dafür Zeugnis ab, wie schnell man dabei in die Kitsch-Falle tappt. Ausgerechnet der Amateurmaler Tolkien hat die einzigen überzeugenden Illustrationen zu seinem eigenen Werk geschaffen. In ihrer Ungelenkheit und in ihrem Dilettantismus strahlen sie den Charme des Naiven aus und verweigern sich so jedem klebrigen Bombast. Vor allem aber versuchen sie gar nicht erst, die Fantasie in Bildern festzuhalten und ihr damit Zügel anzulegen. Sie respektieren schon wieder die Leerstelle.
Peter Jackson ist es allen Fallstricken zum Trotz gelungen, einen opulenten, ausufernden und bildgewaltigen Fantasy-Film zu gestalten, der die Leerstellen dennoch nicht erschlägt sondern virtuos damit spielt. Und das betrifft längst nicht nur Frodo.
Der Erfolg seiner Verfilmung lässt leicht vergessen, dass Jackson damit ein gewaltiges Risiko eingegangen ist, denn Literaturverfilmungen haben es grundsätzlich schwer. Entgegen der gängigen Vorstellung scheitern sie aber in den meisten Fällen am Publikum und nicht am Regisseur, weil die Zuschauer nicht bereit sind, ihre eigene Bildphantasie, die sie beim Lesen der Vorlage entwickelt haben, zu vergessen oder zumindest relativieren zu lassen und sich den Visionen der Filmemacher verweigern. Je bekannter und je kultiger eine Vorlage, desto schwieriger wird die Aufgabe in dieser Beziehung stellt „Herr der Ringe“ eine maximale Herausforderung dar.
Dennoch hat es Jackson gewagt, seine Vision und nicht eine zu Tode „gesneakte“[iii] Vision auf der Basis des durchschnittlichsten gemeinsamen Nenners vorzulegen. Die Stärken von Jacksons visuellem Konzept liegen in seiner Unbedingtheit und Konsequenz, in der ausserordentlich durchdachten Bildkadrierung beispielsweise. Nichts wirkt zufällig oder beliebig. Wo er die Kamera hinstellt, wie er den Ausschnitt wählt alles zeugt von einer starken Vision und anders als in der Panini-Fantasy setzt er in seinen Bilder ganz klare Zentren, er staffelt die Szenerie, fokussiert den Blick und führt damit die Zuschauer. Ebenso bewusst gestaltet Jackson den Rhythmus, zunächst ebenfalls durch Bildausschnitte, durch den Wechsel von Totalen und Nahaufnahmen, dann aber auch durch langsame, fast schon meditative Szenen im Wechsel mit rasanten Action-Sequenzen. Für diese Rhythmuswechsel greift er auch beherzt in die Dramaturgie des Buches ein zum Vorteil des Films, dessen zweiter Teil ohne diese Rhythmisierung nicht erträglich wäre.
Meisterhaft ist auch die Qualität der Tricktechnik. Während digital erzeugte Bilder und Figuren normalerweise einen Eindruck von schwebender Körperlosigkeit vermitteln und gerade dadurch unwirklich erscheinen[iv], erhalten sie in „Herr der Ringe“ Gewicht, Bodenhaftung und Wucht. Gollum ist die erste digital erzeugte Figur, die wirklich zum Charakter wird und Empathie weckt.
Dass die Filmtechnik selbst Leerstellen ermöglicht oder auch verhindert, darauf weist der Regisseur Tom Tykwer im Zusammenhang mit digitalen Aufnahmetechniken hin: „Ich bin überzeugt, dass die digitale Technik nie dieselbe Ausstrahlung haben wird wie der analoge Film. Im Film wird das Bild 24 Mal pro Sekunde transportiert dazwischen ist es schwarz. Ich glaube irgendwie fest daran, dass dieses Schwarz der Fluchtpunkt unserer Fantasie ist, wo wir uns aufhalten und selbst ein Teil des Films werden können. Das ist natürlich eine theoretische Vorstellung, aber mir kommt es so vor, als wäre die Botschaft des digitalen Films: Du darfst zusehen, aber du darfst nicht selbst ein Teil davon werden, weil für dich kein Platz mehr frei ist.“[v]
Obwohl durch die Fortschritte in der Tricktechnik die Verwirklichung von Jacksons-Visionen erst möglich wurde, sind die Ansprüche an den Umgang mit Leerstellen unabhängig davon die selben geblieben wie seit jeher: Filme sind gezwungen, mit Auslassungen zu arbeiten. Es bleibt ihnen schlicht nicht die Zeit für ausufernde Verästelungen und locker gestreuten Andeutungen von beidem gibt es im „Herr der Ringe“ ja reichlich. Mit anderen Worten: Ein Film erreicht Verdichtung nur durch Auslassung. Er kürzt, fasst zusammen, liebt aus purer Zeitökonomie das Pars pro Toto. Dass er dadurch nicht zwangsläufig löchriger wird, lässt sich sehr schön an der längeren DVD-Version des ersten Teils „Die Gefährten“ zeigen. Diese geizt zwar nicht mit schönen Bildern und mit hilfreichen Erklärungen, erreicht aber nie die Intensität der Kinoversion, und das eben genau deshalb, weil sie Leerstellen zu stopfen und die Auslassung didaktisch zu überbrücken versucht.[vi]
Schon Tolkien arbeitet virtuos mit Leerstellen, die immer das Gefühl vermitteln, hinter der effektiv erzählten Geschichte stecke noch viel mehr, all jene Details und Ereignisse, die nicht geschildert würden, seien unsichtbar präsent. Erst durch diese Auslassungen erhält der Stoff sein Gewicht. Hübsches Beispiel dafür sind alle jene erfundenen Redensarten und Sprichwörter, die eine jahrhundertelange Tradition suggerieren, von der wir im Grunde gar nichts erfahren.
Jackson hat sich ebenso konsequent auf die Stimmung seines Films konzentriert, auf den Reichtum im nahezu unsichtbaren Detail, die Raffinesse in der Kürzestszene. Mit Dialog und Handlung geht er oft sehr frei um, tut aber alles, um die Stimmung eines gewaltigen Mythos aufzubauen. Dazu trägt übrigens ganz wesentlich die Filmmusik von Howard Shore bei. Mit ihren Leitmotiven schafft sie in Sekundenbruchteilen einen „Stimmungsteppich“. Seine Musik würde in der Konzerthalle zwar bestimmt arg klischiert wirken, Wagner für die Massen gewissermaßen, aber gerade das Klischee verschafft uns Leerstellen, weil es die Vorstellungskraft nicht absorbiert und als blitzschnelle Orientierungshilfe funktioniert.
Peter Jackson wird den ganzen „Herrn der Ringe“ in neun Stunden komprimieren. Das ist ohne massive Kürzungen nicht möglich. Gleichzeitig gibt es in Tolkiens Vorlage Szenen, die nur angedeutet werden und ohne eine ausmalende Interpretation nicht auf die Leinwand übertragbar sind. Beispielsweise der Kampf zwischen Gandalf und Saruman: Dieser Zweikampf steht so nicht in der Vorlage. Gandalf berichtet im Rat von Elrond lapidar: „Sie ergriffen mich und brachten mich hoch auf die Zinne des Turms, dorthin, wo Saruman die Sterne zu betrachten pflegte.“ (Tolkien, 286) Jackson macht aus diesem Moment, in dem Gandalf den Verrat Sarumans entdeckt, bewusst eine spektakuläre Action-Sequenz. Aber bezeichnenderweise auch noch mehr. Gleichzeitig dient die Szene nämlich dazu, uns klarzumachen, dass es sich hier um zwei mächtige Zauberer handelt, dass der alte Mann, der seinen Spaß an kindischen Feuerwerken hat, auch gefährlich sein kann, dass mit Zauberei nicht bloss ein paar gesunde Heilkräutersalben gemeint sind. Und wenn Gandalf auf der Zinne Isengaards angekommen ist, kann Jackson zudem nahtlos in die Demonstration dessen übergehen, was Saruman teuflisch plant.
Ähnlich verdichtet Jackson auch die Beratung bei Elrond. Dass es zu einem heftigen Streit kommt, wird bei Tolkien nicht explizit erwähnt. Und schon gar nicht schildert er, wie sich die Streitenden im Ring spiegeln. Auch dieses Bild hat Jackson für den Film erfunden lieber möchte man allerdings sagen gefunden. Und er erreicht damit, ohne dass er didaktisch belehrend oder ausufernd wird, dass die zerstörerische Macht des Ringes alles durchdringt es wird klar, dass er es ist, der Zwietracht sät.
Damit kommen wir zu jener Leerstelle, die zwischen jeder literarischen Vorlage und ihrer Verfilmung steht und absolut fundamental ist: Die Leerstelle zwischen Wort und Bild. Allen Versuchen der Linguistik und Philosophie zum Trotz, kann jener Moment, in dem aus einem Wort ein Bild wird, nie restlos erklärt werden, es bleibt immer eine geheimnisvolle Lücke, eine Leerstelle.
Sie ist unter anderem dafür verantwortlich, dass wir uns so ausgiebig darüber streiten können, wie denn der „Herr der Ringe“ bebildert werden könnte. Die Nazgûl, die Ringgeister beispielsweise. Wie sollen sie aussehen? Jacksons „schwarzen Reiter“ sind körperlos und doch tonnenschwer das Paradox eines verkörperten Nichts. (Erreicht wurde dieser Eindruck durch einen relativ simplen Theatertrick, indem die Darsteller der Reiter über hundert Kilogramm schwere Gewänder tragen mussten.) So überzeugend für den einen diese Brücke vom Wort zum Bild gebaut sein mag, dem anderen geht sie ins Leere und folglich lässt sich auch darüber stundenlang streiten. Sogar ob die Beschreibung der Film-Nazgûl nachvollzogen wird, bleibt ungewiss, denn vom Bild zum Wort besteht selbstverständlich eine ebenso hartnäckige Leerstelle.
Und nicht zuletzt wegen seinen vielen Leerstellen, die unzählige Fragen offen- und damit endlose Diskussionen zulassen, ist „Der Herr der Ringe“ zum Kultbuch geworden.
Eine Reihe von Beispielen soll Jacksons kongeniale Übersetzungsarbeit illustrieren:
„Bilbo nahm den Umschlag aus der Tasche, aber gerade, als er ihn an die Uhr lehnen wollte, zuckte seine Hand zurück, und das Päckchen fiel zu Boden. Bevor er es aufheben konnte, hatte der Zauberer sich schon gebückt, es genommen und an seinen Platz gelegt.“ (Tolkien, 52) steht bei Tolkien, als Bilbo sich vom Ring trennen soll. Jackson zeigt in einer extrem kurzen Szene, die dennoch besser als jeder Dialog funktioniert, wie sehr der Ring ein Eigenleben führt: Er fällt zu Boden und bleibt ohne jede Rotation liegen. Etwas, was kein normaler Ring tut.
Oder Legolas als Bogenschütze. Viele Kinogänger haben über seine „völlig unrealistische Bogentechnik“ geschimpft (wobei natürlich Realistik als Massstab für einen Fantasy-Film an sich eine bizarre Forderung ist). Aber auch hier trifft Jackson genau das, was Tolkien nur in einem Nebensatz andeutet. „…und schneller, als man sehen konnte, hatte er den Bogen gespannt und den Pfeil auf der Sehne.“ (Tolkien, 460)
Im Elfenwald werden wir für einen Moment von betörendem Schwindel erfasst, nur weil die Kamera sich abwärts bewegt, während die Gefährten eine zauberhafte Wendeltreppe aufsteigen.
Als Frodo die herannahende Gefahr durch einen schwarzen Reiter spürt, dehnt sich der Waldweg in einem halluzinatorischen Vertigo-Effekt[vii] aus.
Oder der Strudel, in dem Frodo jeweils versinkt, wenn er den Ring überstreift: Er ist derart suggestiv und furchteinflößend, dass sich die Magie des Rings tatsächlich in den Zuschauerraum auszudehnen scheint.
Im Grunde greift Jackson zu dem, was bereits Tolkiens Rezept war: Er lässt dem Eskapismus freien Lauf, versetzt die Zuschauer in einen Rauschzustand und zwingt sie geradezu, seiner urgewaltigen und stets vorantreibenden Geschichte zu folgen. „Herr der Ringe“ muss man ob als Buch oder als Film verschlingen und sich verschlingen lassen, anders funktioniert das Fantasy-Genre nicht.
Dennoch lässt auch die Verfilmung jenen Freiraum sprich, jene Leerstellen zu, in denen sich die je eigene Fantasie entfalten kann. Das zu wagen ist riskanter als es beim fertigen Film erscheint, zeigt sich aber dennoch als einzig gangbarer Weg. Immer dann, wenn Jackson seiner Bildsprache nicht vertraut, wenn er geschwätzig wird, weicht er vom „rechten Pfad“ ab. Beispielsweise in den Liebesszenen zwischen Aragorn und Arwen, die in ihrer konventionellen Romantik abfallen Romantic Hotels eingerichtet von Laura Ashley.
Auch für Jackson gilt also: „Herr der Ringe“ ist letztlich ein Stoff und kein Drama. Darf er aber derart frei damit umgehen, sich den Stoff einfach aneignen und eigenständig ausgestalten? Christopher Tolkien jedenfalls scheint darüber nicht gerade erfreut zu sein, und es ist anzunehmen, dass auch J. R. R. Tolkien selbst „nicht amüsiert“ wäre. Oft genug hat er betont, dass er eine Verfilmung des Buches für unmöglich halte, und hat damit selbst am Mythos der Unverfilmbarkeit mitgebastelt. Dennoch hat ausgerechnet Tolkien selbst Jackson das beste Argument geliefert, denn auch der Künstler kann als Leerstelle gesehen werden. Immer wieder hat Tolkien erzählt, wie ihn der Satz „In einer Höhle in der Erde, da lebte ein Hobbit“ förmlich angesprungen habe was soviel bedeutet wie: In einer Leerstelle hockte ein Mythos, der nur darauf wartete uns zu überfallen. Ein Bild, das Jackson übrigens aufnimmt, wenn er seinen Film mit einer schwarzen Leinwand beginnen lässt und eine Erzählstimme aus dem Off aus den Anfängen des Mythos zu berichten beginnt.
Auch in seiner Einführung zum „Herrn der Ringe“ erweckt Tolkien gezielt den Eindruck, dieser Mythos sei nicht seine Erfindung gewesen, sondern habe schon existiert, bevor er ihn entdeckt habe. Tolkien war gewissermassen nur das Gefäss, in dem sich die Geschichte sammeln konnte der Künstler als Leerstelle.
Dass der „Herr der Ringe“ nicht erfunden, sondern entdeckt wurde, macht einen wesentlichen Reiz des Buches aus, es ist aber auch ein Indiz dafür, dass dieser Stoff nicht Tolkien gehört. „Als die Geschichte wuchs, schlug sie Wurzeln (in die Vergangenheit) und verzweigte sich in unerwartete Richtungen“ schreibt Tolkien und irgendwann erreichte das Geäst Peter Jackson, eine Art neuseeländischen Hobbit, der sich des Stoffs bemächtigt und ihn als eigenständiger und im wahren Sinne visionärer Künstler visualisiert hat. So bahnbrechend für das Fantasy-Genre seine Verfilmung aber auch sein mag, damit ist der Stoff noch lange nicht in seinen Besitz übergegangen nicht einmal die Verfilmung und ihre Interpretation gehört mehr Jackson allein. Ob ihm unser Stochern in den Leerstellen genehm ist oder nicht, es kümmert uns wenig, denn dieser Stoff gehört uns allen.
© Thomas Binotto
[i] Da der Autor sich dem Thema als Filmpublizist und nicht als Literaturwissenschaftler nähert, erlaubt er sich, die Passagen aus „The Lord of the Rings“ in der hierzulande gängigen deutschen Übersetzung zu zitieren.
Tolkien, John R. R. Der Herr der Ringe. Stuttgart: Klett Cotta, 2000. (Übersetzung: Wolfgang Krege)
[ii] Die italienische Firma „Panini SpA“ produziert Sammelalben, die sich besonders vor jeder Fußball-WM oder EM großer Beliebtheit erfreuen. Ziel der Sammler ist es, sämtliche Lücken im Album mit hunderten von Klebebildchen zu füllen.
[iii] Sneak-Preview nennt man die Testvorführungen eines Filmes vor einem Publikum, das über keine Vorinformationen verfügt und anschließend an die Vorführung auf Auswertungskarten seine Meinung festhält. Anhand solcher Testvorführungen wird ein Film in der Postproduktion optimiert, um schließlich sein Zielpublikum optimal zu erreichen.
[iv] Beispielsweise in den Star Wars-Folgen „Episode 1: The Phantom Menace“ und „Episode 2: Attack of the Clones“.
[v] Unveröffentlichte Passage aus dem Gespräch zwischen Tom Tykwer und Michael Ballhaus, welches unter dem Titel „Das fliegende Auge Michael Ballhaus, Director of Photography“ erschienen ist. Berlin, Berlin-Verlag 2002.
[vi] Ein Meister der Leerstelle war Alfred Hitchcock, der dafür sogar einen eigentlichen Fachbegriff prägte, den „MacGuffin“. Der MacGuffin ist der Grund, der die Handlung in Gang setzt, der aber letztlich völlig unerheblich ist, ein reiner Vorwand ohne tiefere Bedeutung. Im Spionagefilm beispielsweise ist der MacGuffin normalerweise eine Erfindung, die ihrem Besitzer ungeheure Macht verspricht und deshalb von aller Welt gejagt wird. Hitchcock vertrat die Theorie die er in seinen Filmen höchst überzeugend umsetzte dass der MacGuffin möglichst wenig Raum einnehmen sollte. Je gewichtiger er sei, desto schwerfälliger werde die Handlung. Seinen schlankesten MacGuffin erfand Hitchcock für „North by Northwest“ (Der unsichtbare Dritte), wo Cary Grant auf die Frage, was eigentlich der Grund dafür sei, dass er quer durch den amerikanischen Kontinent gejagt werde, die lapidare Antwort erhielt: „Sagen wir, es geht um Import/Export.“ Im legendären Gespräch mit François Truffaut erzählt Hitchcock: „Woher der Begriff des MacGuffin kommt? Der Name erinnert an Schottland, und da kann man sich folgende Unterhaltung zwischen zwei Männern in der Eisenbahn vorstellen. Der eine sagt zum anderen: ‚Was ist das für ein Paket, das Sie da ins Gepäcknetz gelegt haben?’ Der andere: ‚Ach, das, das ist ein MacGuffin.’ Darauf der erste: ‚Und was ist das, ein MacGuffin?’ Der andere: ‚Oh, das ist ein Apparat, um in den Bergen von Adirondak Löwen zu fangen.’ Der erste: ‚Aber es gibt doch überhaupt keine Löwen in den Adirondaks.’ Darauf der andere: ‚Ach, na dann ist es auch kein MacGuffin.’ Diese Geschichte zeigt Ihnen die Lerre, die Nichtigkeit des MacGuffin.“ Bemerkung am Rande: Wenngleich für unzählige „Herr der Ringe“-Fans ein Sakrileg, so wäre es zweifellos dennoch einen Versuch wert, den Ring, um den sich alles dreht, als MacGuffin zu interpretieren. (Zitiert nach: Truffaut, François: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München: Heyne, 1984. Seite 125f)
[vii] Der Vertigo-Effekt wird dadurch bewirkt, dass die Kamera gleichzeitig zurückfährt und heranzoomt. Der Bildausschnitt bleibt derselbe, wird aber verdichtet und übt deshalb eine eigenartige Sogwirkung aus. Benannt nach „Vertigo“, wo der Effekt von Alfred Hitchcock erstmals eingesetzt wurde.