16/2005 | film-dienst
Er wird immer noch Kameramann genannt, obwohl er schon längst Bildregisseur ist ein selten begnadeter dazu. Am 5. August feiert Michael Ballhaus seinen 70. Geburtstag. Höchste Zeit für eine Begehung der Kreisfahrt.
„Der Moment, in dem sich Karlheinz Böhm und Margit Carstensen zum ersten Mal begegnen, sollte zu einer Schlüsselszene werden. Und wir wollten, dass dies unmittelbar spürbar wurde. Schließlich kam ich auf die Idee, mit ihrem Profil anzufangen, einen Halbkreis zu beschreiben, um dann auf seinem Profil zu landen und das alles, während die beiden aneinander vorbeigehen. Fassbinders Reaktion war typisch: „Warum nur einen Halbkreis? Warum gehen wir nicht ganz rum?“ „Weil das Gelände leicht abfällt und die Schienen ins Bild kommen würden. Und überhaupt, wie sollen die Schauspieler über die Schienen hinwegkommen.“ „Das lass nur meine Sorge sein, das werd ich denen schon verklickern.“ Also haben wir einen Kreis gebaut, der zum einen Ende hin offen war und auf der anderen Seite dreißig Zentimeter höher, um das Gefälle auszugleichen. Zu guter Letzt hat er Böhm tatsächlich dazu gebracht, über die Schienen zu steigen.“
Das war im Sommer 1973, als Rainer Werner Fassbinder und Michael Ballhaus gerade im Begriff waren, aus „Martha“ ein unvergessliches Psychodrama zu machen. Es war eine typische Szene für die Arbeitsweise der beiden: Der eine forderte impulsiv das Unmögliche der andere verwirklichte es mit Ausdauer und Gelassenheit. Der eine kümmerte sich einen Dreck um Regeln und Technik beim anderen wurde aus dem Wahnsinn zeitlose Kunst. Wer sich heute die 15 Filme anschaut, die Ballhaus mit Fassbinder gedreht hat, wird zugeben müssen, dass das meiste, was die Jahre überdauert hat, in den Bildern steckt, die aus dieser spannungsvollen Symbiose entstanden sind.
Im Sommer 1973 also wurde der Ballhaus-Kreis geboren. Die Bedenken, die Ballhaus damals gegenüber Fassbinder äußerte, beruhten auf handfesten Gründen. Zwar hätte man theoretisch mit einer Handkamera das Schauspielerduo umrunden können, es wäre daraus aber ein unansehnliches Gewackel geworden, weil die Filmtechnik noch keine Ahnung von Steadicams hatte. Also blieb nur die klassische Methode: Auf Schienen fahren. Damit waren Kadrage und Timing kontrollierbar; es stellten sich gleichzeitig aber auch jene Probleme, die Ballhaus bereits kommen sah: Die Technik, die man für die Kreisfahrt benötigte, war buchstäblich im Weg und drohte unschön ins Bild geschoben zu werden.
Seither hat Ballhaus unzählige Kreisfahrten gemacht, sie wurden zu seinem Markenzeichen und natürlich gelangen sie immer ausgefeilter und perfekter. Schon im „Chinesischen Roulette“ sah man niemanden mehr über Schienen steigen. In „Reckless“ umkreiste er das Liebespaar nicht weniger als acht Mal auf einem mit Gummirädern versehenen Western-Dolly. In „Working Girl“ flog er spektakulär mit einem Hubschrauber um die Freiheitsstatue. Und selbst in „Air Force One“ trotzte er einem Kabinengang eine „Inrundung“ ab, indem Harrison Ford denselben Kreis wie die Kamera beschrieb und damit aus drei Metern purer Enge ein klaustrophobischer Raum wurde. Diese technische Meisterschaft ist das eine, wofür der Ballhaus-Kreis steht. Das können sich allerdings auch andere aneignen, und tatsächlich verfällt heute jeder zweitklassige Action-Thriller irgendwann in einen hysterischen Kreistaumel. Das Mittel scheint sich verbraucht zu haben. So sieht es inzwischen sogar Ballhaus selbst und wendet sein eigenes Markenzeichen immer seltener an.
„Wir haben alles für die Kamera choreographiert. Zuerst wurden die Schienen verlegt, dann die Möbel hineingestellt, und erst als Letztes wurden die Schauspieler geführt. Im Grunde lief alles wie rückwärts. Das ist gleichzeitig auch die Hauptschwäche dieses Films. Er ist kunstvoll aber die Geschichte ist schwach.“
Michael Ballhaus gibt mit entwaffnender Ehrlichkeit zu, dass auch er den einen oder anderen Kreis aus purer Lust am Kreisen gezogen hat. So wie im „Chinesischen Roulette“. In „Outbreak“ vermittelt die Kreisfahrt den Schwindel, der eine vom Virus umzingelte und infiltrierte Welt packt. In „Working Girl“ schraubt sich die Kamera vom Symbol des „American Dream“ zum Individuum hinunter, das sich daran aufreibt. Platzangst breitet sich in „Air Force One“ aus. Und auf den wilden Liebesrausch in „Reckless“ folgt der ebenso wilde Spielrausch in „Color of Money“. Langst zieht die Kamera nicht mehr einen sauberen Kreis. Sie zoomt rein und raus und verleiht so der Szene noch mehr Dynamik.
Auch das bewegt sich noch im Rahmen dessen, was man sich mit etwas Geschick aneignen und verbrauchen kann. Die Kreisfahrt scheint selbst in diesen Fällen vor allem ein technisches Kabinettstück, allerdings ein dramaturgisch klug und gezielt eingesetztes. Und eines, das Ballhaus den Weg nach Amerika und zu seinem Lieblingsregisseur bereitet hat.
Als Aidan Quinn für die Hauptrolle in „The Last Temptation of Christ“ zur Debatte stand, stieß Martin Scorsese beim Sichten der Referenzen auch auf „Reckless“. Den Kameramann, der diese wilde Kreisfahrt inszeniert hatte, den wollte er kennen lernen. So kam es zum Zusammentreffen zwischen Scorsese und Ballhaus, zu einer einzigartigen künstlerischen Partnerschaft und dazu, dass aus Ballhaus endgültig ein „Director of Photography“ wurde.
„Die Kamera definiert Michelle Pfeiffer in einem Raum, definiert ihr Verhältnis zu Jeff Bridges, und gleichzeitig hat es etwas sehr Verführerisches, dieses um Michelle herumgleiten, reinfahren und rausfahren, die Kamera umschmeichelt sie förmlich, und damit erhält die Szene etwas sehr Sinnliches.“
Was Ballhaus im Rückblick auf „The Fabulous Baker Boys“ anklingen lässt, macht den Ballhaus-Kreis erst zum Gestaltungsmittel eines Bildkünstlers. Und dieses lässt sich dann nicht mehr so ohne weiteres kopieren. Drehen wir also nochmals eine Runde:
Schon bei „Martha“ dient die Kreisfahrt zu mehr als einem dramaturgischen Ausrufezeichen. Durch den zweifachen Kreis, den hier Kamera und Schauspieler beschreiben, wird diese erste Begegnung zu einer torkelnden Halluzination und visualisiert damit die fatale Beziehung zwischen Martha und Helmut, die hier ihren Anfang nimmt.
Selbst im „Chinesischen Roulette“ steckt mehr als eine Fingerübung: Personen und Glasvitrinen werden durch die Kreisfahrt hin und her geschoben, der Raum zerschnitten, der Blick verstellt. Ein Sinnbild für die verlogene Camouflage dieses Gesellschaftsspiels.
Michelle Pfeiffer und Jeff Bridges wiederum werden von der Kamera förmlich aus Raum und Zeit herausgeschält, wodurch ungeschützte Intimität und damit auch Erotik entsteht. Die Kreisfahrt beschreibt eine Sexszene.
Hier wird zudem Wesentliches über das Verhältnis von Ballhaus zur Schauspielkunst sichtbar. Er umschmeichelt seine Schauspielerinnen und Schauspieler, schirmt sie ab, macht sie zum Nabel der Welt, zwingt alle Aufmerksamkeit auf sie die Kreisfahrt wird zum Ausdruck eines Liebesverhältnisses.
Während die Kreisfahrt um Pfeiffer und Bridges ganz nach innen gerichtet ist, wendet sie sich in „Age of Innocence“ nach außen. Hier wird die Intimität des Paares ganz bewusst gestört. Diese Kreisfahrt dient nun tatsächlich dazu, ein Paar und seine Beziehung zum Raum zu definieren, wobei hier mit Raum vor allem eine Gesellschaft gemeint ist. Auf atemberaubend raffinierte Weise enthüllen Anlage und Rhythmus dieser Kamerafahrt ein Korsett. Im Walzertakt wird offenbar, wie die New Yorker Gesellschaft das Dreieck Newland Archer, Ellen Olenska und May Wellandin unter Kontrolle zu halten gedenkt: Man bildet einen Ring, der dem Kreisel immer eine neue Richtung gibt, sobald er anstößt. Aus diesem Reigen wird es trotz scheinbar öffnendem Schwung keinen Ausweg geben. Und die ganze Zeit tut die Kreisfahrt so, als ob sie lediglich der Exposition diene, als ob es einzig darum ginge, die Personen des Stücks vorzustellen. Gerade dadurch wird sie zum vollendeten Kunstwerk, weil kein Kraftaufwand mehr sichtbar ist.
„Das Knifflige an der Kreisfahrt bestand darin, dass wir sie mit der Voice-Over-Stimme synchronisieren mussten, die nachher über die Bilder gelegt wurde. Wir haben eine Kreisschiene ins Zentrum der Tanzfläche gelegt, haben die Tanzenden gefilmt, und jedes Mal wenn jemand ins Bild kam, den die Erzählerstimme vorstellen musste, sind wir von 24 Bildern in der Sekunde auf 30 Bilder gegangen. Für diese Szene hat jemand am Set den Text gelesen, damit wir genau timen konnten, wann wir wieder auf 24 Bilder zurückmussten, bis wir dann am Schluss auf Winona Ryder gelandet sind.“
Am 5. August wird Michael Ballhaus 70 Jahre alt. In diesem Sommer dreht er zusammen mit Martin Scorsese „The Departed“, der beiden endlich den längst fälligen Oscar eintragen soll oder aber sie endgültig zu Legenden machen wird. Auf jeden Fall wünscht man sich, dass Michael Ballhaus weiterhin seine Kreise zieht, weil er damit aus der flachen Leinwand einen begehbaren Globus formt. Das Kino springt mitten ins Leben und wir mitten ins Kino.
„Das sind meine Highlights, weil die Kamera dann anfängt, selbst eine Geschichte zu erzählen, und nicht bloß sprechende Köpfe abfotografiert. Wenn die Kamera eine Atmosphäre schafft, wenn sie mit Bildern erzählt das macht am meisten Freude.“
© Thomas Binotto
Die Zitate stammen aus einem Interview des Autors, das im film-dienst 12/2000 erschienen ist und dem Buch „Das fliegende Auge Michael Ballhaus, Director of Photography“ von Tom Tykwer. Daraus wurden auch die Bildsequenzen entnommen. Dieser Interviewband, 2002 im Berlin Verlag erschienen, ist nach wie vor im Buchhandel erhältlich (ISBN 3-8270-0460-8).