Beitrag in "Traumwelten - Der filmische Blick nach innen"
    Charles Martig / Leo Karrer (Hrsg.). Schüren Verlag 2003.

    "Wir sind in dieser Welt nie wirklich zu Hause" | Peter Weir im Porträt 

    Billy Kwan drückt in «The Year of Living Dangerously» seine randständige Lebenssituation als Halbindonese in Indonesien und als Kleinwüchsiger mit diesen Worten aus: «Wir sind in dieser Welt nie wirklich zu Hause.» Gleichzeitig benennt er damit die Gemeinsamkeit, die ihn mit dem australischen Reporter Guy Hamilton verbindet, der 1965 in Djiakarta über die Revolutionsunruhen berichten soll, ohne wirklich Verständnis für das Land und seine Menschen aufzubringen.[1]

    Billy Kwans Zitat könnte auch über der «Truman Show» stehen, wo ein Mensch in seinem eigenen Leben nicht mehr zu Hause ist, oder über dem Gesamtwerk Peter Weirs, das sich stets um die Pole Sicherheit und Fremdheit dreht, oder gar als Schlagzeile über Peter Weirs Biographie, dem Australier, der als junger Mann seine Wurzeln in Europa entdeckte, die überraschende Offenbarung einer Touristenreise, wie er selbst berichtet, und der nun ein Einzelgänger unter den arrivierten Regisseuren Hollywoods ist.

    Das Leben als Ort der Unsicherheit kann Albträume auslösen, die bis zur Traumatisierung reichen, lässt uns in Wunschträume flüchten und ganze Traumwelten aufbauen – all das steckt in Peter Weirs Filmen, wo der Traum zum poetischem Mittel wird, um der Rauheit des Alltags zu begegnen. Genauso labyrinthaft poetisch wie Edgar Allan Poes Gedichtzeile, die am Anfang von «Picnic at Hanging Rock» steht und die für Weirs Werk programmatisch geworden ist: «Nothing but a dream within a dream».[2] Und genauso sanft verstörend wie das Schiff, das in «The Truman Show» den Himmel rammt.[3]

    Die Frage lautet also: Wie stimmt uns Peter Weir auf jenes Lebensgefühl ein, dessen poetischer Ausdruck der Traum ist, eben jene Welt, in der wir nie ganz zu Hause sind? Und weiter gilt es aufzuzeigen, dass die «Truman Show» gerade in dieser Hinsicht die (bisherige) Quintessenz von Peter Weirs Werk ist.

    Zunächst allerdings bleibt festzustellen, dass Peter Weir kein singuläres Phänomen ist – und auch nicht sein will. Er versteht sich selbst als Kinoerzähler in einer langen und großen Tradition von Erzählern. In diese Tradition hat er sich auch ganz bewusst gestellt, als er nach Hollywood gegangen ist und damit, oberflächlich betrachtet und von zahlreichen Kritikern verbreitet, zum Mainstream-Regisseur wurde. Hollywood als «Traumfabrik» ist ein uraltes Klischee, das mit der ebenso alten Erkenntnis einhergeht, dass jedes Kinoerlebnis auch ein Traumerlebnis ist.

    Dennoch ragt Peter Weir aus dieser Tradition heraus, weil er mit auffallender Beharrlichkeit und Regelmäßigkeit das Thema «Traum» variiert, durchaus vergleichbar mit Alfred Hitchcock und dessen Dauerthema «Schuld und Sühne».

    Am 21. August 1944 wurde Peter Weir als Sohn eines Immobilienmaklers in Sidney, Australien, geboren. Er sollte und wollte ursprünglich ins Geschäft des Vaters einsteigen. Von diesem Schritt aber doch nicht restlos überzeugt, machte er 1965 eine Schiffsreise nach Europa, wo er als Mithelfer für die Bordunterhaltung seine eigentliche Berufung entdeckte: das Entertainment.

    Auf derselben Reise lernte er auch seine zukünftige Frau Wendy Stites kennen, die seither an fast allen seinen Filmen als Production Designerin mitgewirkt hat.

    Auf den ersten Blick nicht so entscheidend, aber auf unauffällige Weise dennoch folgenreich, war die Erkenntnis, dass die australische Kultur nicht nur, wie er zunächst angenommen hatte, eine amerikanisch geprägte ist, sondern in noch stärkerem Masse europäischen Ursprungs. Dass aber die Australier im Gegensatz zu den Amerikanern keinen «Mayflower-Stolz» kultivieren; anders gesagt, dass die Nachfahren von aus Europa deportieren Sträflingen und Randständigen ihre Abstammung und damit auch ihre Wurzeln vorzugsweise totschweigen, und dass sie damit in einer Scheinwelt leben, die er, Peter Weir, erst durch seine Europareise als solche entlarven konnte.

    Nach seiner Rückkehr 1967 beschloss Weir, sich ganz dem Entertainment zu widmen, und er begann damit an einer Fernsehstation, wo er sein Handwerk von Grund auf lernte. Im gleichen Jahr drehte er seinen ersten Kurzfilm «Count Vim’s Last Exercise» (Australien 1967), gefolgt von weiteren Kurzfilmen, bis er 1974 Gelegenheit erhielt, seinen ersten langen Spielfilm «The Cars that Ate Paris» zu realisieren.

    Ausgerechnet in diesem Erstling werden erstaunliche Parallelen zur «Truman Show» sichtbar. Schon der Titel führt uns auf eine falsche Fährte, denn mit Paris ist nicht etwa das große europäische sondern das gottverlaßene australische gemeint.[4]

    Hier im australischen Niemandsland, haben sich die Bewohner das Existenzminimum unter der Leitung ihres Bürgermeisters auf außergewöhnliche Weise gesichert: Strandräubern vergleichbar provozieren sie auf einer kurvenreichen Zufahrtsstrasse Autounfälle, nehmen die so erbeuteten Autos aus, begraben Autowracks und Tote, und überlassen die Überlebenden dem Krankenhausleiter, dessen «Versuche» kein Patient bei klarem Verstand übersteht. Und all das geht sehr rechtschaffen vonstatten – selbst die Rentner sitzen brav auf der Veranda und bringen Autobestandteile wieder in Form, damit ein guter Verkaufspreis gesichert ist. Alles wäre gut, wären da nicht die randalierenden Jugendlichen der Stadt. Sie haben nichts besseres zu tun, als in reanimierten Autowracks durch die Strassen zu rasen und wollen nichts mehr von ehrlicher Arbeit wissen.

    Wie in der «Truman Show» werden wir in eine in sich abgeschlossene Welt eingeführt, eine Welt mit eigenen Regeln, die dadurch aus den Fugen gerät, dass die Jugend ausbrechen will. Der leicht debile, bindungslose Arthur, der einen Unfall überlebt hat und vom Bürgermeister adoptiert wird, wandelt wie ein Schlafwandler durch diese verkehrte Welt, diese Welt, die im wahrsten Sinne «down under» ist – als ein reiner Tor, genau wie Truman Burbank, der «true man», der «wahre Mensche», durch «Seahaven» gelotst wird.

    Solche hermetisch abgeschlossenen Biotope schildert Weir häufig und immer als Lebensräume mit eigenen Regeln, die nur so lange überleben können, wie sie nicht von der übrigen Welt kontaminiert sind. Besonders eindrücklich kommt das in «Witness», «Dead Poets Society» oder «Picnic at Hanging Rock» zum Ausdruck – und immer ist es der oder das Fremde, was als Katalysator oder als Agitator die Ordnung ins Wanken bringt. In «Truman Show» schließlich wird gar Truman selbst zum Fremden.

    Die fundamentale Fremdheit des Menschen in dieser Welt, die Weir immer wieder beschreibt, drückt er dadurch aus, dass er unaufhörlich das Verhältnis von Realität und Fiktion zur Diskussion stellt. Ist die Flutkatastrophe, die David Burton in «The Last Wave» voraussieht, eine wirkliche Bedrohung oder nur ein Alptraum?[5] Ist Jill in «The Plumber» vom Klempner Max wirklich bedroht oder bildet sich das die hysterische, vernachlässigte und frustrierte Ehefrau nur ein?[6] Stirbt Archie auf dem Schlachtfeld von Gallipoli einen heroischen oder einen sinnlosen Tod? Das eingefrorene Bild, mit dem der Film endet, lässt gerade diese Frage offen. [7] Ist unser Leben eine einzige, live-übertragene Soap-Opera oder haben wir die Freiheit, unseren Lebensweg selbst zu wählen?

    Die Antworten auf diese Fragen fallen bei Peter Weir nie eindeutig aus. «Ich war immer mehr vom Geheimnis selbst fasziniert als von der Antwort dahinter.» Diese Faszination am Geheimnis hat auch formale Folgen, denn gerade daraus entsteht ganz organisch die traumartige Stimmung seiner Filme.

    Das Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion treibt Weir schließlich in «The Truman Show» auf die Spitze. Selbst wenn Truman Burbank zum Schluss das Set verlässt, dann lässt er zwar die eine Fiktion hinter sich – aber doch nur, um in die nächste zu wechseln. Und auch wir als Zuschauer werden zu einem Teil dieses Verwirrspiels. Können wir uns am Anfang noch über die sensationssüchtigen TV-Zuschauer erhaben fühlen und mokieren, so verschmelzen wir im Showdown mit ihnen zu einem einzigen Publikum, zur Gemeinschaft der Voyeure, die sich nichts so sehnlichst wünscht, als dass die Fiktion doch endlich Realität werde. Der große Manipulator in diesem Verwirrspiel heißt deshalb nicht Ed Harris alias Christof sondern Peter Weir, er ist der Puppenspieler, der alle Fäden in der Hand hält.

    In «The Year of Living Dangerously» bietet Billy Kwan eine kurze Einführung in die Kunst des indonesischen Schattenspiels. Er demonstriert Guy Hamilton damit, dass in der Politik und in der Liebe immer jemand an unsichtbaren Fäden das Spiel dirigiert und nichts so ist, wie es zunächst scheint. Gleichzeitig wird aber auch offenbar, wie Kino funktioniert: ein Schattenspiel auf der Leinwand, dass uns Realität suggeriert und doch pure Fiktion ist.

    Wer wird durch Billy Kwans Erläuterungen nicht unmittelbar an Platons Höhlengleichnis erinnert? Und wem wird, nebenbei bemerkt, nicht spätestens hier klar, dass die fruchtbarsten Beiträge zur Selbstreflexion des Kinos nicht unbedingt jene Filme sind, die sich explizit darum bemühen.

    In den Filmen von Peter Weir ist tatsächlich nichts so, wie es auf den ersten Blick scheint, das ganze Leben ist ein Traum in einem Traum. In der «Truman Show» kommt dies unter anderem durch Bilder zum Ausdruck, die an René Magritte erinnern, diesen Surrealisten, dessen Gemälde auf den ersten Blick so klar, so realistisch, so überdeutlich erscheinen und die doch das Gefühl hinterlassen, da könne etwas nicht stimmen – und tatsächlich stimmt ja auch immer irgendetwas nicht. Ein abgründiger Hyperrealismus, wie wir ihn aus unseren Träumen, den ganz allnächtlichen Träumen, kennen. Auch Weir verwendet gerne überdeutliche Bilder, die doch immer ein Geheimnis bergen, eine fast schon mythische Qualität haben, so wie am Schluss von der «Truman Show», wenn Truman sein Boot in den Himmel rammt und an dessen Rand entlanggeht und damit an den berühmten Holzschnitt erinnert, auf dem ein Mensch unter dem Himmelsrand hindurchschlüpft.

    Die fundamentale Unsicherheit der menschlichen Existenz verleitet dazu, eine Welt aufzubauen, die sicher ist, ein Paradies auf Erden, ein «Seahaven» wo es keine Krankheit, keinen Tod und keine Angst gibt. Es ist kein Zufall, dass gerade das Bauen bei Weir immer wieder als Bild für den Wunsch des Menschen nach Sicherheit und Unsterblichkeit auftaucht.

    In «Mosquito Coast» sieht Allie Fox im wildesten Dschungel schon die Stadt seiner Träume vor sich. Er, der aus der amerikanischen Konsumhölle geflohen ist, will sich hier das Paradies auf Erden schaffen. Und je mehr sich seine Träume materialisieren desto deutlicher wird, dass er genau jene Zivilisation neu erschafft, vor der er einst geflohen ist.[8]

    Die Amish-Gemeinden sind ebenfalls Dissidenten des amerikanischen Fortschrittglaubens. Und gerade deshalb erscheint ihr archaisches Leben für uns als ein Paradies auf Erden, in das John Book in «Witness» nicht nur einbricht sondern, der Zivilisationshektik müde, auch dankbar eintaucht. Wenn eine Scheune an einem Tag aufgerichtet wird, dann drückt sich darin für ihn und für uns ein Traum von Gemeinschaft und Solidarität aus. Gemeinsam schaffen die Menschen eine neue – oder in diesem Fall wohl eher – eine alte Welt. Peter Weir inszeniert diesen Moment in einem betörend sinnlichen Bild- und Musikrausch, der gerade dadurch erhaben wirkt, dass er so ruhig, so unaufgeregt dahinfließt. Dass sich auch hinter dieser Fassade das brüchige Leben verbirgt, merkt John Book und damit auch der Zuschauer erst später.[9]

    Sehr oft entführt uns Weir in eine scheinbar perfekte Ordnung, die sich langsam ins Chaos aufzulösen beginnt, wie in «The Last Wave», «Picnic at Hanging Rock» oder in der «Truman Show». Dass dahinter durchaus System steckt, wird durch das folgende Weir-Zitat bestätigt: «Ich beschäftige mich mit Ordnung und Chaos; mit der dunkelsten Seite der menschlichen Natur, im Konflikt mit Sanftheit und Licht: dem Unterschied zwischen Oberfläche und Substanz.» Manchmal allerdings geht Weir auch den entgegengesetzten Weg, wie in «Green Card», wo er auf subtile Art und Weise zeigt, wie aus Fiktion Realität werden kann:

    Um der Einwanderungsbehörde eine glaubwürdige Liebes- und Lebensgeschichte vorzugaukeln, fabrizieren Brontë und George an einem einzigen Wochenende ihren gesamten Briefwechsel. George sitzt im Wohnzimmer und schreibt aus Afrika, Brontë sitzt in der Küche und antwortet aus New York. Und während sich die beiden eine gemeinsame Vergangenheit «erschreiben», geschieht geradezu magisches, weil die erfundene Vergangenheit plötzlich Wirklichkeit wird, weil die Gefühle von Verlangen und Sehnsucht, von Warten und Vorwärtsdrängen Realität werden und so aus einer vorgegaukelten eine wahrhaftige Liebesgeschichte.[10]

    Peter Weirs Hauptthema ist das Fremde. Wie verschiedene Kulturen und Menschen aufeinander reagieren, das hat Peter Weir immer interessiert. Wie Menschen mit dem Fremden  in sich und um sie herum umgehen, das steht in schlichtweg jedem seiner Filme im Zentrum:

    In «The Cars That Ate Paris», kommt es zwischen den honorigen aber zutiefst bestialischen Alten und den primitiven aber ehrlichen Jungen zum «Kulturkampf».

    In «Picnic at Hanging Rock» ist die Spannung zwischen viktorianischer Prüderie und erwachender Sexualität förmlich spürbar.

    In «The Last Wave» stößt ein Australier auf die ihm völlig fremde Kultur der Aborigines.

    «The Plumber» macht die Angst einer Volkskundlerin vor ihren eigenen «primitiven» Natur zum Thema.

    In «Gallipoli» hoffen zwei jugendliche Männer auf das Abenteuer ihres Lebens und stoßen in der Fremde auf den sinnlosen Krieg.

    «The Year of Living Dangerously» porträtiert einen Reporter, der die fremde Welt Indonesiens beobachten aber nicht deuten kann.

    In «Witness» kann die Liebe eines Grosstadtpolizisten zu einer amischen Frau wegen fundamental verschiedener Kulturen keine Erfüllung finden.

    In «The Mosquito Coast» sucht ein Aussteiger das ganz Andere, erträgt aber gerade dieses nicht und versucht es zu transformieren und sich dadurch anzueignen.

    In «Dead Poets Society» treffen zwei unverträgliche Lehrmethoden aufeinander. Und Zufall oder nicht: Der Wunschtraum, dessen Verwirklichung letztlich tödlich endet, besteht darin, den Puck in einer Inszenierung von Shakespeares «Sommernachtstraum» zu spielen.[11]

    Bei «Green Card» ist es gewissermaßen das individualisierte Fremde in Gestalt von Gérard Dépardieu, das für einen Kulturkampf im Kleinen sorgt.

    In «Fearless» findet sich der Überlebende einer Flugzeugkatastrophe im Leben wieder und wird zum heimatlosen Wanderer zwischen Leben und Tod.

    Und in «The Truman Show» schließlich wird ein Mann in seinem eigenen Leben zum Fremden, weil sich dieses Leben als gefälscht herausstellt.

    Das Fremde steht bei Weir ganz selbstverständlich auch für das Unterbewusste, für das verdrängte Archetypische – und wie nicht anders zu erwarten hat sich Weir mit Freud und Jung beschäftigt. Aber einmal mehr gilt, dass Weirs-Filme erfrischend unprätentiös sind, dass er sein Thema, auch darin Hitchcock vergleichbar, in «einfache» Geschichten zu formen versteht.

    Das Fremdeste aber, das es für den Menschen gibt, ist der Tod. Und auch er ist in Peter Weirs Filmen allgegenwärtig: «Das Thema Tod liegt allen meinen Filmen zugrunde.»

    Dass für Weir die Annahme des Todes, des Befremdlichen schlechthin, dass dieses Akzeptieren das Leben erst möglich macht, zeigt sich am eindrücklichsten in «Fearless» wo Max Klein erst durch das Zurückgewinnen der Todesangst wieder lebensfähig wird:

    Früher hat Max auf Erdbeeren allergisch reagiert, sie hätten seinen Tod bedeuten können. Jetzt, nach dem Überleben eines Flugzeugabsturzes, können sie ihm nichts mehr anhaben, sie zu essen wird für ihn zum maliziösen Spiel mit dem Tod. Seine Rückkehr ins Leben wird in einer Schlüsselszene dadurch markiert, dass er zum wiederholten Mal das Spiel mit der Erdbeere spielt – und beinahe daran stirbt – jetzt endlich wieder! Als er darauf zum zweiten Mal von einer Grenzerfahrung ins Leben zurückkehrt, ist es eine wirkliche Rückkehr, eine Rückkehr in die Todesangst aber auch ins Leben.[12]

    Die schwarze Türöffnung, durch die Truman Burbank in «The Truman Show» am Schluss verschwindet, muss wohl ebenfalls als Symbol für den Tod gedeutet werden, aber auch hier als ein Tod, der neues Leben bedeutet.

    Dass eine traumhafte Stimmung in fast allen Weir Filmen auch in der Grundstimmung spürbar wird, hat nicht nur inhaltliche sondern auch formale Ursachen. Weirs bevorzugte Erzählstruktur funktioniert analog zu Poes Gedicht: Er erzählt Geschichten in Geschichten. In «Witness» ist der Thriller nur die Rahmenhandlung für ein leises Liebesdrama, in dem zwei Kulturen aufeinanderprallen. «Fearless» entführt alle, die einen spektakulären Katastrophenfilm erwarten, auf eine subtile Seelenreise. Und geht es in «Mosquito Coast» auch vordergründig um eine Aussteigergeschichte, so steht in Wirklichkeit der Oedipus-Mythos im Mittelpunkt. Weir beutet Genrekonventionen aus, um seine Zuschauer anzulocken, um ihnen dann eine ganz andere Geschichte zu erzählen, als er zunächst vorgegeben hat. Eine wesentliche Rolle spielt der selektive Umgang mit der Tonspur. Weir schafft häufig etwas, was man eine klangliche Grossaufnahme nenne könnte, indem viele Alltagsgeräusche ausblendet und nur einige wenige Töne durch diesen Filter hindurchgelassen werden, diese Töne erhalten dadurch zwangsläufig eine besondere Bedeutung, zudem entsteht eine fokussierte Stille.

    Ein Beispiel dafür: In «The Last Wave» sitzt David Burton während eines tosenden Sturms in seinem Auto, was man hört sind aber lediglich die Scheibenwischer. Oder in «Gallipoli», wenn die Soldaten in der Bucht tauchen und der Kriegslärm nur wie durch Watte zu ihnen hindurchdringt. Weir ist zudem ein Meister der stummen Szenen ohne Dialog, besonders eindrücklich und gleich mehrmals kommen solche in «Witness» und «Fearless» vor. Weir selbst sieht den Ursprung dafür in seiner frühen Zeit als Regisseurs, damals seien die selbstgeschriebenen Dialoge so grauenhaft gewesen, dass einer der meistgerufenen Sätze am Set «drop the line» gewesen sei.

    Auch die Kameraführung trägt ihren Teil zur schwebenden, traumhaften Atmosphäre bei, welche die Filme Weirs dominiert – eine ruhige, aber sich meist in langsamer Bewegung befindliche Kamera. Viele Szenen wirken dadurch retardierend, wie in Zeitlupe, obwohl sie das rein technisch nicht sind.

    Und schließlich ist Peter Weir nicht nur ein Verfechter der Grossaufnahme, sondern offensichtlich auch ein Freund der halbnahen, gebrochenen Totale. Das bedeutet, dass er seine Figuren sehr oft aus mittlerer Entfernung durch ein Hindernis, beispielsweise ein Fenster beobachtet. Der Zuschauer wird damit zum Zeugen des ganz Intimen und ist doch nicht wirklich Teil davon - ein Träumer in einem Traum in einem Traum.

    Damit gewährt er dem Zuschauer einerseits den Blick in die Intimsphäre und seinen Figuren gleichzeitig die Wahrung eben dieser Sphäre. Ein geradezu klassische Beispiel dafür ist die wunderschöne Szene in «Green Card» in der Brontë zum ersten Mal ihren Wintergarten betritt. Zunächst folgt die Kamera ihr in den Garten, zieht sich dann aber durch die Türe zurück, während gleichzeitig der langsame Satz aus Mozarts Klarinettenkonzert einsetzt. Damit erhält die ganze Szene eine ungewöhnliche erotische Wirkung, und tatsächlich ist für Brontë die Gärtnerei ja auch Liebesersatz. Und weil die Szene so intim ist, gerade deshalb bleibt die Kamera draußen, was natürlich die Spannung nur noch erhöht.

    Das Leben in Disney-Land, in einer properen, keimfreien und todsicheren Umgebung ist für viele Menschen kein Traum mehr sondern Wirklichkeit. Siedlungen wie «Seaside», das real existierende Set für das scheinbar surreale «Seahaven», erleben in den USA einen wahren Boom: Alterssiedlungen, in denen keine Kinder übernachten dürfen, wo Vorschriften für die Farbe der Haustüre erlassen werden und die Möbel, die in Fensternähe platziert werden dürfen. Allerdings, auch dieses Paradies auf Erden – sofern man sich dieses so vorstellt – auch diese Idylle zeigt bereits Risse. Die größten Sicherheitsprobleme drohen den Siedlungen nämlich nicht von Außen sondern von Innen, von randalierenden Jugendlichen, die gegen das Paradies, in dem sie leben müssen, aufbegehren. «The Cars that Ate Paris» und «The Truman Show» – beide sind längst Realität geworden.

    Peter Weirs Wunschtraum ist nicht Sicherheit immer und überall. Er ist auf der Suche nach Freiheit – aber er macht auch den Preis deutlich, den für diese Freiheit zu zahlen ist: Unsicherheit und letztlich der Tod.

    Oder, um zum Schluss den Bogen endgültig in die Theologie zu schlagen, jenen Bereich, der bei Weir kaum je explizit zur Debatte steht und der doch immer gegenwärtig ist: «Der Schlaf, des Todes sanftes Bild, führt uns dem Grab des Schlummers zu.» Auch dieses Zitat könnte als Motto über Peter Weirs Filme stehen, stammt aber aus dem mittelalterlichen Stundengebet. Es drückt, wie Peter Weirs Filme aus, dass im Traum der Tod gegenwärtig wird – und gleichzeitig im Tod der Traum. Diesem Mysterium begegnet Weir nicht mit den Mitteln der Analyse sondern wie Edgar Allen Poe mit den Mitteln der Poesie und der Fantasie. Er gibt so auf subtile Weise der Hoffnung Ausdruck, dass am Ende des Traums ein Happy-End wartet, ein wahrhaft glückliches Ende, wie es in allen Weir-Filmen höchstens angedeutet aber nie ausgebreitet wird. Solange wir leben, bleibt alles in der Schwebe…

    Thomas Binotto


    [1] The Year of Living Dangerously (Ein Jahr in der Hölle)

    Ein australischer Korrespondent ringt im bürgerkriegsbedrohten Indonesien des Jahres 1965 um seine Karriere, durchschaut schließlich die menschenverachtende Seite seines Metiers und verzichtet zugunsten einer Liebesbeziehung. Melodramatische Spannungsgeschichte, die sich weniger um den zeitgeschichtlichen Hintergrund kümmert, sondern über die Hoffnung auf Selbsterkenntnis des einzelnen und eines ganzen Volkes reflektiert. Filmisch dicht und überzeugend, voller Querverweisezwischen innerer und äußerer Erzählebene. (Lexikon des internationalen Films)

    Australien / USA 1982. Regie: Peter Weir. Buch: David Williamson, Peter Weir, C.J. Koch; nach einem Roman von C.J. Koch. Kamera: Russell Boyd. Musik: Maurice Jarre. Schnitt: Bill Anderson.

    Besetzung: Linda Hunt (Billy Kwan), Mel Gibson (Guy Hamilton), Sigourney Weaver (Jill Bryant), Bill Kerr (Col. Henderson), Michael Murphy (Pete Curtis).

    [2] Zum Programm wurde diese Gedichtzeile auch für die jüngste Weir-Monographie: Michael Bliss „Dreams Within a Dream – The Films of Peter Weir“ Southern Illinois University Press 2000.

    [3] The Truman Show (Die Truman Show)

    Das Leben des Versicherungsagenten Truman Burbank ist ohne dessen Wissen seit 30 Jahren Gegenstand einer weltweit live übertragenen, äußerst erfolgreichen Fernseh-"Seifenofer". Satire und Nachdenklichkeit treffen sich in Peter Weirs Film vor dem Hintergrund einer gigantischen "lebensechten" Fernsehkulisse, und der Zuschauer wird zum Voyeur der Voyeure bei Trumans allmählicher Entdeckung einer alternativen Realität. Brillant inszeniert und gespielt, nimmt der Film Medienmanipulation, Konformismus und Kommerzialisierung aufs Korn, scheut aber auch vor existentieller Fragestellungen nicht zurück. (Quelle: Lexikon des internationalen Films)

    USA 1998. Regie: Peter Weir, Buch: Andrew Niccol, Kamera: Peter Biziou, Musik: Philip Glass, Burkhard Dallwitz, Schnitt: William M. Anderson, Lee Smith. Besetzung: Jim Carrey (Truman Burbank), Laura Linney (Meryl Burbank/Hannah Gill), Noah Emmerich (Marlon/Louis Coltrane), Natascha McElhone (Lauren Garland/Sylvia), Holland Taylor (Trumans Mutter), Ed Harris (Christof)

    [4] The Cars that Ate Paris (Die Autos, die Paris auffraßen)

    Die Bürger der australischen Kleinstadt Paris leben von mit Lichtfallen herbeigeführten Autounfällen, während ihre Straßen von Auto-Freaks mit bizarren Vehikeln beherrscht werden. Ein Bürgerkrieg zwischen den Gruppen führt den Untergang der Stadt herbei. Sanft-makabre Horror-Komödie um die Zerstörung einer Zivilisation, deren scheinbare Ordnung und Idylle nur mühsam die Brüche und Risse unter der Oberfläche verbergen kann. (Lexikon des internationalen Films)

    Australien 1974. Regie: Peter Weir. Buch: Peter Weir, Keith Gow, Piers Davies. Kamera: John McLean. Musik: Bruce Smeaton. Schnitt: Wayne LeClos

    Besetzung: Terry Camilleri (Arthur), John Meillon (Bürgermeister), Melissa Jaffer (Beth), Kevin Miles (Dr. Midland), Max Gillies (Metcalfe).

    [5] The Last Wave (Die letzte Flut)

    Ein junger australischer Anwalt kommt durch die Begegnung mit Vertretern der Aborigines, der schwarzen Ureinwohner des Kontinents, und ihrer Kultur zu der Erkenntnis, dass der Menschheit eine neue Sintflut droht. Mit intellektueller Ernsthaftigkeit und inszenatorischem Können gestaltete beklemmende Vision der  Apokalypse. (Lexikon des internationalen Films)

    Australien 1977. Regie: Peter Weir, Buch: Peter Weir, Tony Morphett, Petru Popescu, Kamera: Russell Boyd, Musik: Charles Wain, Schnitt: Max Lemon. Besetzung: Richard Chamberlain (David Burton), Olivia Hamnett (Annie Burton), David Gulpilil (Chris Lee), Frederick Parslow (Pfarrer Burton), Vivean Gray (Dr. Whitburn), Walter Amagula (Gerry Lee), Roy Bara (Larry), Peter Carroll (Michael Zeadler), Athol Compton (Billy Corman), Hedley Cullen (Richter).

    [6] The Plumber (Wenn der Klempner kommt)

    In der Wohnung einer jungen Wissenschaftlerin findet sich ein Klempner ein, der vorgibt, dringende Badezimmer-Reparaturarbeiten erledigen zu müssen. Während der folgenden Tage richtet er ein heilloses Durcheinander an. Sein Betragen flößt der Frau unerklärliche Angst ein, so daß das merkwürdige Verhältnis der beiden zu einer Machtprobe ausartet. Ein ironisch gefärbter Thriller, in dem Gruseleffekte stets ins Komische umschlagen. Der fürs Fernsehen entstandene Film erscheint wie eine Paraphrase des Kinofilms "Die letzte Flut" vom selben Regisseur. (Lexikon des internationalen Films)

    Australien 1979. Regie: Peter Weir, Buch: Peter Weir, Kamera: David Sanderson, Musik: Gerry Tolland, Schnitt: G. Tunney-Smith. Besetzung: Ivar Kants (Max, der Klempner), Judy Morris (Jilly Cowper), Robert Coleby (Brian Cowper), Candy Raymond (Meg), Peter Weir.

    [7] Gallipoli (Gallipoli)

    Ein historisches Drama aus dem Ersten Weltkrieg: Australische Freiwillige, die sich in der Erwartung großer Abenteuer und Heldentaten für das englische Heer anwerben lassen, werden im Einsatz auf der türkisch besetzten Insel Gallipoli das Opfer gnadenloser Kriegsrealität. Ein wichtiger, mit Ernst und ansehnlicher Qualität gestalteter Film, dem man allerdings die kommerziellen Absichten seiner beiden Produzenten ansieht. (Lexikon des internationalen Films)

    Australien 1981. Regie: Peter Weir, Buch: David Williamson nach einer Erzählung von Peter Weir, Kamera: Russell Boyd, Musik: Jean-Michel Jarre, Tommaso Albinoni, Brian May, Schnitt: William M. Anderson. Besetzung: Mel Gibson (Frank Dunne), Mark Lee (Archy), Bill Hunter (Major Barton), Robert Grubb (Billy), David Argue (Snowy)

    [8] Mosquito Coast (Mosquito Coast)

    Ein skurriler Erfinder flieht mit seiner Familie aus der nach seiner Ansicht kaputten Wohlstandsgesellschaft in die Einsamkeit und Unberührtheit des Dschungels, scheitert aber auch dort an den eigenen Ansprüchen. Wort- und kopflastiger politischer Märchenfilm, der am Ende ins Tragikomische umkippt. Die immerhin redliche Botschaft wird nur über die Dialoge transportiert, ihre mangelhafte Umsetzung in Bilder macht den Film langatmig. (Quelle: Lexikon des internationalen Films)

    USA 1986. Regie: Peter Weir, Buch: Paul Schrader nach einem Roman von Paul Theroux, Kamera: John Seale, Musik: Maurice Jarre, Schnitt: Thom Noble. Besetzung: Harrison Ford (Allie Fox), Helen Mirren (die Mutter), River Phoenix (Charlie), Jadrien Steele (Jerry), Hilary Gordon (April)

    [9] Witness (Der einzige Zeuge)

    Ein Polizeidetektiv aus Philadelphia kommt bei der Bearbeitung eines Mord- und Korruptionsfalls ins Gebiet der Amish, einer deutschstämmigen Sekte, die alle Errungenschaften der modernen Zivilisation ablehnt. Der Zusammenprall unterschiedlicher Lebensauffassungen und die stete Bedrohung des Traums von einer besseren Welt bilden den Hintergrund der spannenden Action- und Liebesgeschichte. Einfühlsam inszeniert, bis auf den plakativen Schluß erfreulich abseits der Genre-Klischees.(Quelle: Lexikon des internationalen Films)

    USA 1985. Regie: Peter Weir, Buch: Earl W. Wallace, William Kelley, Kamera: John Seale, Musik: Maurice Jarre, Schnitt: Thom Noble. Besetzung: Harrison Ford (John Book), Kelly McGillis (Rachel Lapp), Josef Sommer (Deputy Schaeffer), Lukas Haas (Samuel Lapp), Alexander Godunow (Daniel Hochleitner), Jan Rubes (Eli Lapp), Danny Glover (McFee)

    [10] Green Card (Green Card - Schein-Ehe mit Hindernissen)

    Ein französischer Bohemien heiratet eine junge Amerikanerin, um sich dadurch die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in den USA zu beschaffen. Die als Mittel zum Zweck inszenierte Eheschließung stellt beide mehr als erwartet auf die Probe. Charmante Komödie, die weniger die Einwanderungspolitik als die Beziehung zweier Menschen unter widrigen äußeren Umständen thematisiert. Feinfühlig inszeniert und hervorragend gespielt. (Lexikon des internationalen Films)

    Australien / Frankreich / USA 1990. Regie: Peter Weir. Buch: Peter Weir. Kamera: Geoffrey Simpson. Musik: Hans Zimmer. Schnitt: William M. Anderson.

    Besetzung: Gérard Depardieu (George), Andie MacDowell (Brontë), Bebe Neuwirth (Lauren), Gregg Edelman (Phil), Robert Prosky (Brontës Anwalt).

    [11] Dead Poets Society (Der Club der toten Dichter)

    Ein unorthodoxer Lehrer, der im Herbst 1959 sein neues Amt an einem konservativ-strengen College in Neuengland antritt, leitet die Schüler seiner Klasse zur Selbsterkenntnis und zur Verwirklichung der eigenen Identität an. Die Poesie wird dabei zum Sinnbild geistiger Freiheit. Regisseur Peter Weir findet für die bewegende Story faszinierende Bilder. Ein in Thema und Machart gleichermaßen beachtlicher Film, in dem sich Humor, jugendliche Abenteuerlust, Tragik und revolutionärer Geist fast nach klassischem Maßstab die Waage halten. (Lexikon des internationalen Films)

    USA 1988. Regie: Peter Weir, Buch: Tom Schulman, Kamera: John Seale, Musik: Maurice Jarre, Schnitt: William M. Anderson. Besetzung: Robin Williams (John Keating), Robert Sean Leonard (Neil Perry), Ethan Hawke (Todd Anderson), Josh Charles (Knox Overstreet), Gale Hansen (Charlie Dalton)

    [12] Fearless (Fearless - Jenseits der Angst)

    Ein erfolgreicher Architekt überlebt die Folgen eines Flugzeugabsturzes. Während er in der Öffentlichkeit als Held gefeiert wird, steht er selbst seinem früheren Leben, in das er sich erneut zu integrieren versucht, wie ein Fremder gegenüber. Eher eine Exegese über die verwandelnde Kraft des Todeserlebnisses als ein Katastrophenfilm, schließt Peter Weirs neues Werk am kompromißlosesten an die Anfänge seiner Karriere an: ein ins Spirituelle überhöhtes Drama, das die scheinbaren Gewißheiten des modernen Lebens in Frage stellt. (Lexikon des internationalen Films)

    USA 1993. Regie: Peter Weir. Buch: Rafael Yglesias. Kamera: Allen Daviau. Musik: Maurice Jarre. Schnitt: William M. Anderson

    Besetzung: Jeff Bridges (Max Klein), Isabella Rossellini (Laura Klein), Rosie Perez (Carla Rodrigo), Tom Hulce (Brillstein), John Turturro (Dr. Bill Perlman).

    © Thomas Binotto