4. Juli 2003 | Neue Zürcher Zeitung
1974 war Jacques Tati am Boden zerstört: Seine Produktionsfirma war Konkurs gegangen, seine Filme wurden an einen italienischen Immobilienspekulanten verschachert, das gesamte Privatvermögen samt Haus war weg, nie mehr sollte er einen Spielfilm drehen. Es war das brutale Ende eines Traums, der einst so viel versprechend „Playtime“ geheissen hatte. Monsieur Hulot alias Jacques Tati hatte sich als Grossunternehmer versucht und war spektakulär gescheitert.
Gescheitert war Tati unter anderem an seinem Faible für Technik. Ein tragikomisches Paradox, denn bereits 1947 hatte er sich in „Jour de fête“ über den Fortschrittsglauben lustig gemacht: „Rapidité, rapidité!“ posaunt der Postbote François von seinem Rad und setzt sein Credo immer absurder in die Tat um. Geschwindigkeitsrausch und Technikbegeisterung boten Tati eine unerschöpfliche Quelle für Gags und gleichzeitig gehörte er selbst zu den Opfern: „Jour de fête“ wurde in einem Farbverfahren aufgenommen, von dem man damals noch keine Kopien ziehen konnte. Erst 1994 gelang es seiner Tochter Sophie Tatischeff die ursprünglich geplante Farbfassung wieder herzustellen. Während Tati für diesen, seinen ersten langen Film noch auf Nummer sicher gegangen war und gleichzeitig eine schwarzweisse Fassung gedreht hatte, legte er bei „Playtime“ jegliche Zurückhaltung ab: Der Film wurde auf 70mm gedreht und mit einem 6-Kanal-Stereoton versehen etwas, was 1967 nur die wenigsten Kinos in Frankreich vorführen konnten.
Tati hatte zur Technik ein paradoxes Verhältnis. In vier seiner Filme machte er sich variantenreich und treffsicher über eine technisch hochgerüstete Welt lustig. Aber als Filmemacher war er stets auf der Höhe der Zeit. Sogar noch mit „Parade“, seinem letzten Film, wurde der 65jährige zum Pionier, weil er als einer der ersten mit einer Videokamera drehte. Der Mann, der als Hulot so liebenswürdig unbeholfen und wohltuend chaotisch war, wurde als Regisseur zum gefürchteten und rücksichtslosen Perfektionisten. Über zwei Jahre lang dauerten deshalb die Dreharbeiten zu „Playtime“. Tati arbeitete sich in seinen tief gestaffelten Szenen jeweils vom hintersten bis zum vordersten Darsteller durch, um jedem minutiös Anweisungen für die geforderten Bewegungen zu geben ohne je eine psychologische Begründung dafür zu liefern. Jede Figur wurde zu Tati im Spiegelkabinett seiner Stadt aus Glas und Stahl ein fast schon beängstigendes Phänomen.
Als sich seine inszenatorischen Ansprüche an den Originaldrehplätzen nicht realisieren liessen, baute Tati ausserhalb von Paris eine Filmstadt. Innerhalb von fünf Monaten wurde auf über 15'000 Quadratmetern ein Gebäudekomplex aus Glas, Stahl, Beton, Holz und Pappe gebaut. Eine Geisterstadt mit verschiebbaren Häuserfronten und scheinbar endlosen, perspektivisch verzerrten Fluchten.
Ob solcher Technikbegeisterung und Perfektionsdrang drängt sich dann doch die Rückfrage auf, ob Tatis Filme tatsächlich so technikfeindlich sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Es stimmt zwar, der Briefträger François gibt in seinem Eifer eine lächerliche Figur ab, aber er ist gleichzeitig liebenswürdig in seinem altmodischen Berufsethos. Die Villa der Arpels in „Mon Oncle“ bietet zwar Projektionsfläche für unzählige Gags, strahlt gleichzeitig aber eine zeitlose Eleganz aus. Und die Architektur in „Playtime“ erst man wünschte sich, die Bauherren des Potsdamer Platzes hätten sich den Film angesehen was Tati damals als Stadt der Zukunft gebaut hat, ist zwar monströs aber auch überwältigend schön.
Bei aller Skepsis hatte Tati zu Technik ein geradezu romantisches Verhältnis. Wenn Plastikrohre plötzlich als Würste zur Maschine herauskommen, wenn die Neonbeleuchtung über dem Restauranteingang zum Wegweiser für schwankende Säufer wird, wenn der Stau sich als Karussell dreht, wenn ein Autounfall in ein bizarres Ballet ausbricht immer dann, wenn Technik mit Leben erfüllt wird, wenn scheinbar leblose Dinge sich emanzipieren und ihre einschüchternde Perfektion verlieren, immer dann (aber natürlich nicht nur dann) wird Tati zum Poeten.
Und weil Tati ein Poet ist, ist es falsch, die „Royal Garden“-Sequenz aus „Playtime“ als ein Akt der Zerstörung zu beschreiben. Vielmehr handelt es sich um eine Umgestaltung. Nachdem die amerikanischen Touristen einen Tag lang nur die Spiegelbilder des „echten“ Paris, erhaschen konnten, sind sie im „Royal Garden“ nicht mehr zu halten. Sie verwandeln den Nobelschuppen in eine fröhliche französische Kneipe und wer genau hinsieht, darf sogar einen kurzen Blick auf eine wundersam auftauchende pittoreske Gasse à la Paris werfen.
Dieses perfekt getimte Ballet der Verwandlung wird oft mit „The Party“ von Blake Edwards verglichen. Aber der Witz dieser beiden Filme könnte unterschiedlicher kaum sein. Während Edwards immerzu den Slapstick sucht und damit zwangsläufig die Zerstörung will Tati niemals den Klamauk. Er inszeniert den Gag als eine Laune des Zufalls, ein flüchtiges Augenzwinkern, meist schon vorbei, wenn man es wahrnimmt, und manchmal geradezu schüchtern im Hintergrund versteckt. Immer wieder hat Tati betont, dass er seine Gags nicht produziere sondern beobachte. Folgerichtig tritt Hulot als Urheber der Komik immer mehr in den Hintergrund, bis er in „Playtime“ vollends anonymisiert wird und unzählige Hulots für Verwirrung sorgen allerdings nur bei uns pawlowisierten Zuschauern.
Damit wollte Tati das erreichen, was er das demokratische Lachen nannte, weil keine komische Figur mehr im Zentrum stand, die ihre Zuschauer zum Lachen zwang. Wer bei Tati lachte, sollte das selbstverwaltet tun. Diese Selbsteinschätzung trifft allerdings nur beschränkt zu, denn Tatis Filme sind das Resultat eines geradezu besessenen Gestaltungswillens. Das Publikum wird selbstverständlich weiterhin manipuliert, nur bleibt der Komiker für die Kamera unsichtbar.
Andererseits muss man Tati dann doch wieder Recht geben. Denn tatsächlich verschwindet spätestens in „Playtime“ das komische Epizentrum, und damit wird es den Zuschauern erlaubt, sich selbst unters Volk zu mischen und zu Flaneuren in Tatis Trabantenstadt zu werden als Gag-Entdecker. Zur Recht wird Tatis Bildgestaltung häufig mit Brueghel verglichen, weil man sich in seinen Filmen endlos umschauen kann, wie in Vexierbildern wie "Der Sturz des Ikarus" oder Suchbildern wie „Kinderspiele“.
Als „Playtime“ 1967 endlich in Paris Premiere hatte, war er nicht nur um ein vielfaches teurer geworden als ursprünglich geplant, mit 153 Minuten Länge ging er auch weit über das hinaus, was das Publikum verkraften konnte. Dass Tati daraufhin 18 Minuten herausschnitt und François Truffaut eine vielzitierte Lobeshymne anstimmte, konnte das finanzielle Desaster nicht mehr verhindern. Als „Playtime“ 1978 nochmals ausgewertet wurde, war er auf unter zwei Stunden gekürzt und ihm damit auch künstlerisch die Flügel gestutzt. Erst durch die Anstrengungen von Sophie Tatischeff und François Ede konnte „Playtime“ in den neunziger Jahren restauriert und teilweise rekonstruiert werden.
Dass „Playtime“ jetzt gewissermassen als neuer Film gezeigt werden kann und er sieht tatsächlich überwältigend frisch aus das hätte Tati gefallen und ihm späte Genugtuung bereitet. Für ihn wurden Filme nie fertig. Unter Umständen wird man in „Les vacances de Mr. Hulot“ über Tatis Weitsicht staunen, der bereits 1953 den „Weissen Hai“ vorausgesehen hatte. Tatsächlich wurde der Gag mit dem zusammengeklappten Faltboot aber von Tati höchstpersönlich in den siebziger Jahren mit nachträglich gedrehtem Material zur Parodie ausgebaut.
Vor 36 Jahren war „Playtime“ ein finanzielle Katastrophe heute ist er ein künstlerischer Triumph. Wer ihn sieht und all die anderen Tati-Filme der wird entdecken, dass aus Tati, vielleicht überraschend aber sicher nicht zufällig, etwas geworden ist, was er angeblich nie sein wollte: Ein moderner Autor weder voraus noch hinterher sondern zeitlos gültig.
© Thomas Binotto