10. Februar 2006 | Neue Zürcher Zeitung
Ein «Sommer vorm Balkon» mag Anfang Februar reichlich deplaciert wirken, und doch stecken genau im Unzeitgemässen eine innere Logik und eine tiefe Wahrhaftigkeit. Denn genauso wie die lauen Nächte auf dem Balkon eines Berliner Altbaus im Kontrast zur momentanen Winterstarre stehen, prallen hier Komödie und Tragödie unvermittelt aufeinander. Wem der Sinn nach Komik steht, dem erzählt man, dass eine Altenpflegerin zwei Eindringlinge mit Chuzpe und Brotmesser verscheucht oder dass der Workshop für das erfolgreiche Bewerbungsgespräch in der praktischen Anwendung zur Absurdität neigt.
Jenen, die es gerade tragisch mögen, verrät man, dass es um zwei Freundinnen geht, die es im Leben schwer haben. Katrin ist die Frau aus dem Westen Deutschlands, die - in Umkehrung des Klischees - im Osten gestrandet ist. Einst aus Liebe gekommen, sitzt sie heute als alleinerziehende Mutter mit einem halbwüchsigen Sohn da, arbeitslos und einsam, unmerklich in die Alkoholsucht schlitternd. Ihre Freundin Nike dagegen ist zwar mit ihrer Berliner Schnauze vordergründig jeder Situation gewachsen und geht als Altenpflegerin unzimperlich zur Sache. Aber diese zur Schau getragene Kessheit kann nicht über ihre Verletzlichkeit und Unsicherheit hinwegtäuschen. Als ehemaliges Heimkind scheint sie nur darauf zu warten, dass endlich einer kommt, dem sie sich in die Arme werfen kann.
Als der Fernfahrer Ronald in diesen «Sommer vorm Balkon» platzt, will es Nike endlich wissen. Es ist zwar ein ungehobelter Kotzbrocken, den sie da an Land gezogen hat, aber vielleicht ja doch noch erziehbar. Eine Nacht lang auf dem Balkon aussperren und am nächsten Morgen mit Zärtlichkeit demütigen - das sollte den unsensibelsten Klotz zum Erweichen bringen. Aber von Nikes Erziehungsprojekt ist nicht nur Ronald überfordert, es droht auch die Freundschaft zwischen Nike und Katrin zu zerstören.
So wie Andreas Dresen und Wolfgang Kohlhaase ihre Geschichte erzählen, ist die Zuflucht zu einem Begriffsmurks wie «Dramödie» fast unumgänglich. Regisseur und Autor verknüpfen Tragödie und Komödie lebensnah und unterhaltsam, ohne dabei sentimental oder oberflächlich zu werden. Man kann verstehen, weshalb Dresen sich Ken Loach zum Vorbild genommen hat, obwohl er ihm längst auf Augenhöhe begegnen kann. In Deutschland beherrscht kein anderer die Sozialkomödie mit dokumentarisch genauem Blick fürs Detail so wie Dresen. Ebenfalls auf britischem Niveau spielt das Ensemble. Man kann gar nicht anders, als die Darstellerinnen von Katrin (Inka Friedrich) und Nike (Nadja Uhl) in Klammern zu setzen, derart glaubwürdig wirken sie. Die Liebesszene zwischen den beiden ist einer jener wahrhaftigen und wahrhaft magischen Momente, für die wir ins Kino gehen.
Mit Ronald (Andreas Schmidt) begegnet uns einmal mehr einer jener Dresen-Machos, die wir verabscheuen möchten und es doch nicht können - weil auch sie von ihrem Regisseur geliebt werden. Dresens Kamera schraubt sich bezeichnenderweise nie in allwissende Vogelperspektiven, sondern bleibt immer auf Augenhöhe mit den ganz normalen Leuten. Wir werden damit nicht nur zu Zeugen, sondern zu Komplizen ihres ganz alltäglichen Überlebenskampfs. Wir lachen und weinen - nicht über sie, sondern mit ihnen. Und über uns selbst.
© Thomas Binotto