7/2001 | film-dienst
„Alles was damals passierte, war eine Frage des Timings. Die Leute waren bereit für diesen Film wenn er ein Jahr früher oder später entstanden wäre, hätte er nicht dieselbe Wirkung gezeigt.“ Zusätzlich profitierte Soderbergh davon, dass Wim Wenders kurzfristig Francis Ford Coppola als Jury-Präsident ablöste und sich als bekennender „ Sex, Lügen und Videos“-Fan entpuppte; dass der Film überhaupt im Wettbewerb gezeigt wurde, weil ein anderer amerikanischer Film zurückgezogen worden war; und dass er sowohl europäische wie amerikanische Kritikeransprüche zu befriedigen wusste.
Die folgenden Jahre schienen den Eindruck zu bestätigen, dass es sich hier tatsächlich um einen einmaligen Glückswurf gehandelt hatte. Denn in fünf Jahren, von 1991 bis 1996, drehte Soderbergh einen Misserfolg nach dem anderen. Nur gerade „Kafka“ hat es damals in unsere Kinos geschafft. Aber es waren fünf Filme, die eindrücklich demonstrierten, dass Soderbergh nicht auf der Erfolgswelle von „Sex, Lügen und Videos“ reiten, dass er sich also unter keinen Umständen wiederholen wollte.
Von Misserfolg zu Misserfolg
Mit seinem Zweitling „Kafka“ (1991) hatte Soderbergh einerseits eine Hommage an Franz Kafka und andererseits an den deutschen Expressionismus, an Friedrich Wilhelm Murnau und Fritz Lang, im Sinn. Er konnte aber weder die durch den Titel hochgesteckten Erwartungen der Kritiker befriedigen, noch das wohl ebenfalls durch den Titel abgeschreckte breite Publikum gewinnen. Soderbergh selbst hält heute „Kafka“ ebenfalls für misslungen, wie er überhaupt sehr selbstkritisch mit seinen Filmen ins Gericht geht.
Immerhin tauchen in „Kafka“ zwei eng miteinander verknüpfte thematische Motive auf, die schon in „Sex, Lies and Videotapes“ vorhanden sind und sich seither als Leitmotiv durch alle Filme Soderberghs ziehen, so verschieden die Genres auch sein mögen: „Es geht immer um den Kampf zwischen innerer und äußerer Welt. Und in all meinen Filmen kommen die Hauptfiguren mit der Umwelt nicht klar.“ Soderberghs Helden und Heldinnen sind Einzelgänger, die eine Vision des Lebens und der Welt haben, welche sich mit der Realität, den geltenden Regeln nicht oder nur schwer vereinbaren lässt.
Das gilt auch für den 12jährigen Aaron Kurlander in „König der Murmelspieler“ (1993). Ähnlich wie Antoine Doinel in „Sie küssten und sie schlugen ihn“ kämpft er um seine Integrität, um sein moralisches und physisches Überleben in einer feindlichen Umwelt.
Womit ein weitere Vorliebe Soderberghs aufscheint sein Faible für Hommagen. Sei es nun Murnau für „Kafka“, Truffaut für „König der Murmelspieler“, Siodmak für „Die Kehrseite der Medaille“, Lester für „Schizopolis“, Hawks für „Out of Sight“, Boorman für „The Limey“, Pakula „Erin Brockovich“ oder Costa-Gavras für „Traffic“, ganz bewusst orientiert sich Soderbergh immer wieder an Vorbildern.
„König der Murmelspieler“ indes ist von all seinen Misserfolgen der bedauerlichste, weil er einerseits brillantes Erzählkino bietet, andererseits aber gerade dadurch überzeugt, dass er in wärmsten Farben eines der armseligsten Kapitel amerikanischer Geschichte aufrollt, also ein auf den ersten Blick idyllisch wirkender, aber schlussendlich ähnlich subversiver Film wie „Matewan“ von John Sayles.
Dieses formale Konzept wurde offenbar nicht verstanden für die einen war der Film zu düster, für die anderen zu pittoresk und niemand wollte sich eben genau dieser Spannung aussetzen.
Gegen alle Regeln
Zum eigentlichen Tiefpunkt in Soderberghs Karriere geriet 1995 „Die Kehrseite der Medaille“, das Remake von Siodmaks Serie-Noir Klassiker „Gewagtes Alibi“. Nach eigener Aussage verlor Soderbergh damals jegliche Lust an seiner Arbeit und führte nur noch gelangweilt und für einen 32jährigen besonders fatal routiniert Regie. Genau das sieht man dem fertigen, oder zutreffender gesagt unfertigen Film leider an. „Was mich an „Die Kehrseite der Medaille“ so frustrierte, war das Gefühl, nicht konsequent gearbeitet zu haben.“
Soderbergh, der mit „Sex, Lügen und Videos“ einst den Independent-Boom eingeläutet hatte und dem prophezeit worden war, er sei „mit der Palme unterwegs ins große Business“, dieser Wunderknabe war nun unabhängiger denn je, unabhängig von Selbstvertrauen, Arbeitslust, Erfolg und risikofreudigen Produzenten.
Soderbergh reagierte auf diese Krise mit Werken, neben denen selbst gängige Independent-Filme wie pures Kommerzkino erscheinen: Zunächst mit dem Einpersonen-Stück „Gray’s Anatomy“ (1996) und dann mit „Schizopolis“ (1996), einer Farce in der Soderbergh Drehbuchautor, Hauptdarsteller, Kameramann und Regisseur in Personalunion war. Ausgerechnet dieser Film, den „niemand sehen wollte“, bedeutete für Soderbergh eine Wiederauferstehung als Regisseur, weil ihm zwei Dinge gelangen: „Das eine war, die Begeisterung für die eigene Arbeit wieder zu finden, das andere, die Begeisterung für das Werk anderer wiederzugewinnen.“
In „Schizopolis“ brach der Stilist Soderbergh mit sämtlichen Regeln des Erzählkinos: Wenn er nicht mehr weiter wusste, hängte er ein Schild „Idea Missing“ an einen Baum, er zerstörte mit unzähligen Formfehlern jegliche Illusion, man befände sich hier nicht im Film und von einer Story konnte ohnehin nicht mehr die Rede sein.
In „König der Murmelspieler“ gibt es eine Szene, die sinnbildlich für Soderberghs Arbeitsweise steht und die deutlich macht, wie weit er in „Schizopolis“ von seinem bisherigen und zukünftigen Arbeitsstil abwich: Aaron und sein kleiner Bruder spielen das Karomuster-Spiel, sie dürfen beim Gehen durch den Korridor nur weiße Fliesen betreten. Ähnliche Aufgaben stellt sich Steven Soderbergh, der Regisseur, immer wieder: Zeige in „Erin Brockovich“ den erbitterten Kampf um Gerechtigkeit, ohne je den „Bösewicht“ auftreten zu lassen. Oder: Erzähle in „The Limey“ eine Rachegeschichte so, dass sich Ausschnitte aus einem alten Film des Hauptdarstellers nahtlos einfügen lassen.
Für Soderbergh bedeutete „Schizopolis“ offensichtlich ein vielleicht letztes Austoben, bevor er sich entscheiden musste: „Akzeptiere ich die existierende Welt als eine objektive Realität, kann ich mich ihr anpassen und lernen, darin glücklich zu sein? Oder mache ich damit weiter, die äußere Welt meiner inneren Version anzupassen? Das zweite ist eine tolle Sache, die man als Künstler tun kann, aber eine schreckliche Sache, wenn man es in seinem eigenen Leben macht.“ Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb Soderbergh in den letzten Wochen auf die Frage, für welchen seiner beiden nominierten Filme er lieber einen Oscar erhielte, stets zur Antwort gab: „Für ‚Schizopolis’“. Dies ist wirklich sein persönlichstes, sein Schlüsselwerk wenn auch nicht sein bestes.
Im Puzzle liegt der Reiz
Die Indie-Ikone Soderbergh, die nicht nur unabhängig sondern zur Freude der wahren Cineasten auch noch äusserst erfolglos arbeitete, entschied sich im Konflikt zwischen inneren und äußeren Welten ähnlich wie Jahrzehnte zuvor Richard Lester, dem er „Schizopolis“ gewidmet hat, nämlich für die Anpassung an das real existierende Filmbusiness: Er heuerte erstmals bei einem großen Studio an und übernahm die Regie für „Out of Sight“ (1998), einen Film, den „niemand wegen mir anschaut; sie gehen alle wegen George Cloney und Jennifer Lopez ins Kino“.
Dennoch wurde ausgerechnet dieses Auftragswerk zu Soderberghs bis dahin überzeugendstem Film, in dem er endlich zeigen konnte, was er eigentlich schon immer zeigen wollte: Dass er ein raffinierter Geschichtenerzähler und souveräner Gestalter war, ein intelligente Unterhaltung in bester Hollywood-Tradition. „Out of Sight“ ist, obwohl ein Auftragswerk, ein waschechter Soderbergh geworden. Der ist kein Mann für hektische Filme, die Lakonie liegt ihm näher als Sentimentalitäten und er liebt Versager und überhaupt alle, die immer nur fast aber nie alles sagen, was sie wollen „Out of Sight“ war die genau richtige Geschichte für den richtigen Regisseur.
Die Kritik war zufrieden und endlich das Publikum auch. Soderbergh war wieder zurück im Geschäft und jetzt dort, wo man ihn immer hinprophezeit hatte, im Big Business.
Aber wieder schlug er einen seiner typischen Haken und überraschte Publikum, Kritik und Business gleichermaßen mit einem kleinen Film für’s kleine Publikum. Im Rachethriller „The Limey“ trieb er das Spiel mit den Zeitebenen, das in „Out of Sight“ noch dezent im Hintergrund gespielt wurde, auf die Spitze. Er ging so weit, dass zeitweise weder das Publikum vor noch die Protagonisten auf der Leinwand genau wissen, wo sie sich eigentlich befinden. Ein Film, der weniger von einer Geschichte als von einem Gefühl handelte, wunderbar verkörpert von Terence Stamp. „The Limey“ wurde vom Publikum gemieden, die Kritiker allerdings jubelten, vielleicht auch deshalb, weil Soderbergh einmal mehr dort war, wo sie ihn gerne haben wollten, in der Unabhängig- und Erfolglosigkeit.
In „The Limey“ zeigt sich, wie schon in „Out of Sight“ in Reinkultur und exzessiv die Leidenschaft Soderberghs für filmische Puzzles. Es ist eine Konstante in seinem Werk, dass all seine Filme als Puzzle anlegt sind, dass verschiedene Erzählstränge ausgelegt und allmählich zusammengefügt werden. Dieses Spiel beherrscht Soderbergh inzwischen mit einer derart raffinierten Präzision und Eleganz, dass die erste Hälfte seiner Filme stets ein faszinierendes Vergnügen sind. Soderbergh ist derzeit der „König der Puzzlespieler“, der Meister der gezielten Desorientierung.
Das gilt aus eben diesem Grunde auch für „Erin Brockovich“. Genau in diesem, seinem bisher erfolgreichsten Film, zeigt sich aber auch eines der Grundprobleme, mit dem Soderbergh immer wieder zu kämpfen hat. So spannend das Auslegen des Puzzles und dessen allmähliches Enträtseln ist, so banal und plakativ droht die Auflösung, das vollendete Bild, auszufallen. Immer dann, wenn Soderbergh der Versuchung nachgibt und sein Puzzle-Rätsel endgültig auflöst stürzt er ab, so in „Erin Brockovich“ und leider auch in „Traffic“. Oder anders herum: Weil sich das Puzzle in „Out of Sight“ nicht zusammenfügt, nicht zusammenfügen kann, gerade weil Soderbergh vom ersten bis zum letzten Bild „puzzelt“ ist dieser Film sozusagen vollkommen.
„Traffic“, sein jüngster Film, wurde von der amerikanischen Kritik in den höchsten Tönen als komplexestes Drogendrama aller Zeiten gefeiert, und doch bleibt der Eindruck aus den gleichen Gründen zwiespältig wie schon bei „Erin Brockovich“. Allzu viel wird am Schluss aufgelöst, die Komplexität wird derart simplifiziert, dass man sich fragt: Ist das nun naives Independent- oder raffiniertes Mainstream-Kino?
In einer Hinsicht ist jedoch Soderbergh heute wieder dort angekommen, wo er vor 12 Jahren schon einmal war: Er ist der einzige und damit auch jüngste Regisseur, von dem im selben Jahr zwei Filme und er selber zweimal als Regisseur für den Oscar nominiert wurden. Ob er inzwischen mit einem Academy Award „unterwegs in Richtung Bigger Business“ ist oder nicht mit seinem Traum, ein zweiter Terrence Malick zu werden und in der Versenkung zu verschwinden, wird vorläufig sicher nichts, denn sein laufendes Projekt verrät pure Blockbuster-Ambitionen: „Ocean 11“ mit George Cloney, Brad Pitt, Matt Damon und Julia Roberts in den Hauptrollen.
Es bleibt also abzuwarten, ob aus Steven Soderbergh leider ein zweiter Spielberg wird, oder ob er uns glücklicherweise einmal mehr überrascht und doch Soderbergh bleibt, der Mann, der mehr Überraschungen drauf hat, als es sich die Propheten erträumen können.
© Thomas Binotto