6. Dezember 2006 | Neue Zürcher Zeitung
Mit 90 Millionen Dollar dreht man keinen „Taxi Driver“. Das ist das Problem von „The Departed“.
Während die Originalfassung „Infernal Affairs“ von Andrew Lau und Alan Mak als lakonischer Genrefilm auftritt, der unprätentiös zur Sache kommt und dennoch eine raffinierte Fingerübung ist, gerinnt Scorseses Remake im Laufe von 150 Minuten immer mehr zur allzu dick aufgetragenen, wirren Gangsterfarce. Auf den ersten Blick scheint Scorsese nach den Monumentalproduktionen „Gangs of New York“ und „The Aviator“ zwar im Gangstermilieu gut aufgehoben, dort, wo er sich schon immer am sichersten gefühlt hat. Je länger der Film dauert, desto offensichtlicher wird aber, dass er einen letztlich aussichtslosen Kampf gegen das neue Hollywood führt das so gar nichts mit „New Hollywood“ zu tun hat. Die eigentliche Tragik von „The Departed“ ereignet sich deshalb ausserhalb der Leinwand. Schon in der Vorbereitung soll Scorsese mehrmals in das Projekt ein- und dann wieder daraus ausgestiegen sein. Auch die Dreharbeiten mit Jack Nicholson und dem übrigen Starensemble dürften mehr als nur Nerven gekostet haben. Eine Herzensangelegenheit wie seine beiden letzten Filme war „The Departed“ für Scorsese jedenfalls nie. Dennoch hat er versucht, sich diesen Stoff anzueignen, der auch tatsächlich einiges für ihn bereit hält. Er konnte Michael Ballhaus für die Kameraführung gewinnen und dieser liefert stilsicher die gewünschte nüchtern abgezirkelte Bildwelt: Frostig, klaustrophobisch, zynisch. Im Schneideraum sass Thelma Schoonmaker, die Scorsese einen ruppigen Rhythmus schneidet und die Bilder hart aufeinander prallen lässt. Aber bereits hier erscheint die Konstruktion brüchig, denn der Schnitt wirkt teilweise derart forciert, dass der Verdacht aufkommt, hier werde etwas überspielt. Auch die Songs, die Scorsese ausgewählt hat, fügen sich nicht mehr derart nahtlos und zwingend ein, wie wir uns das bei ihm gewohnt sind. Weder die Rolling Stones noch Pink Floyd werden in diesem Film je heimisch. Und so wird die unvergleichliche Kraft, die Scorsese aus Bild, Schnitt und Musik entfesseln kann, in „The Departed“ nie mit ungehemmter und unvergesslicher Wucht auf uns Zuschauer losgelassen.
Scorsese, Ballhaus und Schoonmaker sind zwar nach wie vor eine Klasse für sich, aber gegen das Drehbuch von „The Departed“ können sie sich letztlich nicht durchsetzen und gegen Jack Nicholson erst recht nicht. Dabei wäre der Plot reizvoll und für Scorsese geradezu prädestiniert: Zwei Polizisten aus Boston werden ohne es zu wissen aufeinander angesetzt. Der eine, Matt Damon, wurde bereits als Jugendlicher von einem irischen Gangster in die Polizeischule eingeschleust, um schliesslich als Maulwurf an höchster Stelle zu landen. Der andere, Leonardo DiCaprio, wird von der Polizei zum Undercover-Agent abkommandiert, weil er mit seinem mafiosen Familienhintergrund einen glaubwürdigen Gangster abgibt. Dadurch entsteht eine Art Jagd-Labyrinth, aus dem es letztlich für niemanden ein Entrinnen geben kann. Die Frage, wer nun letztlich wen erlegt, ist dabei sekundär, denn in erster Linie zeichnet „The Departed“ das Drama einer fundamentalen Identitätskrise. Niemand ist das, was er vorgibt zu sein. Und niemand erhält eine Chance, das zu sein, was er sein möchte. Dass daraus keine lineare Erzählstruktur werden kann, leuchtet ein. Dass man allerdings als Zuschauer die Orientierung zeitweise völlig verliert, scheint nicht das Resultat eines gezielten Konzepts sondern einer Überkonstruktion zu sein, in der sich die Autoren selbst verrannt haben.
Darunter leidet vor allem die Figurenzeichnung. Die Charaktere bleiben blass und eindimensional und das irische Milieu in Boston eine Behauptung. Lediglich Leonardo DiCaprio schafft es, sich aus diesem Konstrukt zu lösen. Ihm nimmt man den harten Kerl ab, der gleichzeitig eine verlorene Seele ist. Und man ist bereit, endlich anzuerkennen, dass er auch jenseits der Jünglingsrollen ein grossartiger Schauspieler ist.
Das ist Jack Nicholson schon lange. Und das ist vielleicht auch seine Versuchung. Als zynischer Gangsterboss legt er eine Performance hin, die ihm gut und gerne einen Oscar eintragen könnte, die dem Film aber letztlich nur schadet. Selbstverliebt und maniriert reisst er alles an sich. Aber eigentlich sollte seine Figur doch der Katalysator für ein Drama sein und nicht eine One-Man-Show, die alles andere in den Schatten stellt.
„The Departed“ ist in den USA zum grössten finanziellen Erfolg für Martin Scorsese geworden und hat die Kritiker begeistert, was wohl auch etwas über den amerikanischen Kinojahrgang 2006 aussagen dürfte. Vielleicht trägt er Scorsese und Ballhaus sogar endlich den längst verdienten Oscar ein. Dennoch wünscht man sich, Scorsese würde seine Drohung wahrmachen und in Zukunft nur noch Low-Budget Filme drehen. Dann würde vielleicht wieder etwas so aufregend Unkonventionelles wie „After Hours“ entstehen.
© Thomas Binotto