3. Juni 2005 | Neue Zürcher Zeitung
Wer für amerikanisches Kino nur Etiketten wie „Mainstream“, „Hollywood“ und „Traumfabrik“ zu vergeben hat, dem ist wohl nicht zu helfen sollte aber doch noch ein Restwille zur Bekehrung vorhanden sein, dann könnte diese vielleicht mit „The Woodsman“ gelingen. Das Regiedebüt von Nicole Kassell ist herausragendes amerikanisches Erzähl- und Schauspielerkino, das zudem wieder einmal das Gefühl vermittelt, ein wirklich existierendes Amerika zu Gesicht zu bekommen. Die junge New Yorker Regisseurin kommt Clint Eastwood erstaunlich nahe, verständlicherweise ohne gleich auf Anhieb dessen inzwischen selbstverständliche Meisterschaft zu erreichen. Aber auch Kassell erzählt ihre abgründige Geschichte mit der „eastwoodschen“ Mischung aus eindringlicher Sensibilität und unaufgeregter Gelassenheit empathische Lakonie könnte man das nennen. Und mit Kevin Bacon vertraut sie auch vor der Kamera auf den Eastwood-Typus.
Jahrelang war Kevin Bacon der personifizierte Nebendarsteller und wurde dementsprechend notorisch unterschätzt oder gar übersehen. Spätestens mit Eastwoods „Mystic River“ wurde allerdings offensichtlich, dass Bacon jetzt mit 47 Jahren und nach über 50 Filmen eindrücklich seine wirklichen Qualitäten entfaltet. Es scheint, als müsse er nur noch da sein und sonst gar nichts mehr tun, schiere Präsenz, mit einem Gesicht wie eine Landschaft, wo das Leben seine Furchen gezogen hat und sich ganze Dramen nachzeichnen lassen.
Das Drehbuch zu „The Woodsman“, ebenfalls von Kassell, ist dafür eine solide Grundlage, aber getragen wird der Film letztlich von Bacon, wobei man die Debütantin Kassell immerhin dafür bewundern sollte, dass sie sich nervenstark und instinktsicher auf dessen minimalistisches Spiel einlässt und es nicht mit aufgesetzten Regieeinfällen sabotiert.
Dabei böte das Thema reichlich Material für Voyeure, Sensationslüsterne und Seelengrübler: Walter wird nach zwölf Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Obwohl er offiziell seine Strafe verbüsst hat, will ihn die Gesellschaft nicht zurückhaben, bleibt die Schuld an ihm haften. Walter wurde wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen verurteilt. Und alle Welt erwartet von ihm den Rückfall. Als Schreiner findet er zwar eine Arbeit und mit seiner Arbeitskollegin Vickie (Kyra Sedgwick) bahnt sich sogar eine Beziehung an. Aber für die Polizei ist es nur eine Frage der Zeit, bis Walter die traurige Rückfallstatistik bestätigen wird. Selbst die unkonventionelle, herb besaitete Vickie zieht sich zurück, als sie von Walter die Wahrheit erfährt. Und am Arbeitsort zirkulieren bald schon Flugblätter, die Walters Vorleben enthüllen. Nun ist er zwar vordergründig wieder in Freiheit, aber er bleibt ein Gefangener, zumal er sich selbst nicht über den Weg traut. Wenn er von seinem Wohnzimmerfenster aus Candy beobachtet, der Knaben vor dem Schulhaus abfängt, sieht er zu viel von sich selbst. Seine Dämonen hat Walter noch längst nicht besiegt, und als er wieder nach einem Mädchen Ausschau hält, scheint der Rückfall unausweichlich.
Wer unter dem viel sagenden Titel „The Woodsman“ aufdringliches Psychogeklapper und dräuende Metaphern erwartet, sieht sich angenehm enttäuscht. Die Anspielungen auf Walter den Schreiner; auf den Mann, der das Zwielicht des Waldes sucht; auf den Wolf, den nur Rotkäppchen retten kann, all das schwingt mit wird aber nie breit getreten. Wer will, mag an dem einen oder anderen symbolträchtigen Bild herum mäkeln, insgesamt ist Kassell ein eindrücklich stilles und stilsicheres Drama gelungen, ein unauffällig Aufsehen erregendes Debüt.
In den entscheidenden Momenten erhält das stimmige Bild den Vorrang vor dem stimmungsvollen, kommt die Glaubwürdigkeit vor der Dramatisierung. Kassell gelingt so das bewundernswerte Kunststück, ein heikles Thema mit einem sensiblen und leisen Film anzupacken, ohne sich dabei in gediegene und letztlich wehleidige Differenzierung zu flüchten. Die eigentliche Katharsis Walters, in der es ihm endlich gelingt, seinen Taten mit dem Blick der Opfer zu begegnen, diese Katharsis geschieht völlig unspektakulär im Gespräch zweier Menschen auf einer Parkbank ein grossartiger Kinomoment und als solcher aller Inszenierungs- und Schauspielkunst zum Trotz wahrer als wahr.
© Thomas Binotto