5/2002 | film-dienst
Kein anderer aus der Garde junger deutsche Regisseure ist so bekannt wie Tom Tykwer. Seitdem er mit „Lola rennt“ einen Welterfolg landete, reißen sich die Medien um. Wie wenig ihn dieser Rummel persönlich beeindruckt, konnte man während der „Berlinale“ und im Umfeld des Kinostarts von „Heaven“ erleben, wo Tykwer nicht müde wurde, seine filmischen Visionen als Produkt einer kreativen Umgebung zu erläutern. Auch im Werkstattgespräch mit Thomas Binotto spielten „X-Filme“ und seine Mitarbeiter immer wieder eine Rolle, weil sie für Tykwer vielleicht auch ein Garant dafür sind, selbst bei einer internationalen Co-Produktion seine Unabhängigkeit zu wahren. Nach fünf Filmen (seit „Die tödliche Maria“, 1993) ist Tykwers cineastische „Handschrift“ längst unverkennbar.
Tom Tykwer, in Ihrem Werk spielen Verknüpfungen und Verstrickungen eine wesentliche inhaltliche Rolle. Aber auch die Filme selbst sind untereinander durch wiederkehrende Motive und Bilder verbunden. Ein Beispiel dafür ist die Schlussszene von „Heaven“, wo die beiden Hauptfiguren mit dem Helikopter langsam im Himmel entschwinden was sozusagen die Umkehrszene zum Schluss von „Winterschläfer“ ist, wo Marco ins endlos Bodenlose fällt. Zufall oder Absicht?
Tykwer: Beabsichtigt war diese Ähnlichkeit nie. Erst beim Schnitt von „Heaven“, als wir vor der x-ten Version der Schlussszene saßen, ist mir diese Parallele bewusst geworden und ich dachte: „Mein Gott, das ist ja richtig auffällig!“ Natürlich trage ich meine bisherigen Filme im Unterbewusstsein mit mir herum, aber ich habe nicht die Absicht, ein eigenes hermetisch geschlossenes Universum zu schaffen, und schon gar nicht, mich fortwährend selbst zu zitieren. Solche Vernetzungen und Übereinstimmungen bemerke ich selbst oft erst dann, wenn ich einen Film aus Distanz anschaue, sozusagen als mein eigener Kritiker.
Die beiden Szenen sind aber nicht nur formal, sondern auch in ihrer Aussage miteinander verwandt.
Tykwer: Das stimmt. Witzigerweise war genau diese Schlusssequenz einer der Hauptgründe, weshalb ich „Heaven“ überhaupt machen wollte. Menschen in der Unendlichkeit verschwinden zu lassen, das ist ein Bild, das mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Für mich steckt darin auch ein Versprechen, und ganz besonders der Himmel ist eine ideale Projektionsfläche für all unsere Wünsche und Sehnsüchte. Jedes Bild von Unendlichkeit ist für mich deshalb ein Utopieraum, ein Hoffnungsschimmer; und das gilt nicht nur für „Heaven“, sondern in gewissem Sinne auch für „Winterschläfer“. Wenn Marco buchstäblich verschwindet, dann ist das auf eine bizarre Weise ebenfalls ein erlösender, irgendwie sogar von ihm selbst gewollter Befreiungsakt.
„Ich hasse Kitsch und falsche Gefühle“
Erlösung und Befreiung ist allerdings nicht das, was man normalerweise in solch ausweglosen Situationen erwartet. Braucht es deshalb diese gewaltigen, im eigentlichen Sinne grenzüberschreitenden Bewegungen?
Tykwer: Wenn Bodo und Sissi in „Der Krieger und die Kaiserin“ vom Dach der Klinik springen, dann stecken auch sie in einer scheinbar hoffnungslosen Lage; aber dann holt sie die Welt zurück, weil sie für das Paar einen Ausweg bereithält. Das hat schon etwas Programmatisches an sich: Die Figuren in meinen Filmen sollen für den Mut belohnt werden, mit dem sie Strukturen überwinden, in die sie eingezwängt sind. Das ist selbst in „Die tödliche Maria“ der Fall, wo Maria am Schluss aus dem Fenster stürzt, aber vom Nachbarn aufgefangen und damit gerettet wird. Ich möchte immer Menschen und ihr Tun verstehen, ohne sie gleich zu beurteilen. Von geradezu substanzieller Bedeutung ist das für „Heaven“, so wie es der Drehbuchautor Krzysztof Piesiewicz auf den Punkt gebracht hat: „Wir sind nicht hier, um die Sünde zu verteidigen, sondern die Sünder.“
Sind Sie ein Romantiker?
Tykwer: Wenn man Romantik mit Verklärung assoziiert, dann wehre ich mich vehement gegen dieses Etikett. Ich hasse Kitsch und falsche Gefühle. Wenn ich überhaupt etwas mit dem Begriff „romantisch“ anfangen soll, dann möchte ich ein romantischer Realist sein. Ich bin durchaus von der Sehnsucht angetrieben, dem Leben positive Visionen abzuringen, aber nicht um den Preis verlogener Simplizität.
Ist also der Ausschnitt aus Vittorio de Sicas „Miracolo a Milano“ („Das Wunder von Mailand“) in „Der Krieger und die Kaiserin“ fast schon ein filmisches Glaubensbekenntnis?
Tykwer: „Miracolo a Milano“ ist ein hemmungslos emotionaler Film, aber eben nicht romantisch und schon gar nicht kitschig. Er riskiert in seinem Glauben an das Gute auch die Naivität, die in dieser Behauptung steckt. Entscheidend ist jedoch, dass er sich nie auf die falsche Seite der Gefühle schlägt und nie billiges Sentiment verbreitet. Als ich dann diesen Ausschnitt für „Die Krieger und die Kaiserin“ gewählt hatte, da wurde mir bewusst, dass Sissi natürlich von Totó inspiriert ist.
… und Filippo erinnert in „Heaven“ sogar äußerlich an Totó. Ist er wie dieser ein reiner Tor?
Tykwer: Wenn jemand wie Filippo aus seiner absoluten Unschuld heraus eine so weitreichende Entscheidung fällt, dann entwickelt das eine unglaubliche Dynamik, weil er völlig widerspruchsfrei seinen Weg unbeirrbar gehen kann. Wenn allerdings nicht Giovanni Ribisi, sondern Robert De Niro diese Rolle gespielt hätte, dann hätte ihm das kein Mensch abgenommen, eben weil man ihm schon vom Gesicht abgelesen hätte, dass er nicht dieser unberührte, widerspruchsfreie Mensch, dieser reine Tor sein kann. Und wenn nicht Franka Potente, sondern Corinna Harfouch die Lola gespielt hätte, dann hätte man nie akzeptiert, dass diese nur rennt und rennt, sondern hätte erwartet, dass sie ganz pragmatisch ins Taxi einsteigt.
„Ich habe geträumt“
Ein anderes, bei Ihnen immer wiederkehrendes Motiv sind symbiotische Beziehungen. Filippo und Philippa sind am selben Tag geboren, werden sich im Verlaufe des Films auch äußerlich immer ähnlicher zwei Geschwister oder sogar zwei Seiten einer einzigen Person. Dazu passt das Zitat: „Ich hab geträumt. Wir waren zusammen, im Traum. Wir waren Bruder und Schwester. Mutter und Vater. Frau und Mann. Und wir beiden waren beides.“ Nur dass es nicht aus „Heaven“, sondern aus „Der Krieger und die Kaiserin“ stammt.
Tykwer: Sehen sie, das ist auch so eine Reminiszenz, die mir bis jetzt gar nicht aufgefallen ist. Aber es stimmt, diese Zeile von Sissi entspricht exakt dem Verhältnis von Filippo und Philippa. Tatsächlich haben mich symbiotische Beziehungen immer fasziniert. Ich spreche offensichtlich immer auf Geschichten und Motive an, die eine perfekte Folie für all jene Themen darstellen, die mich umtreiben, für jene fundamentalen Fragen, mit denen ich mich unbedingt auseinandersetzen will. Eine Geschichte ist für mich als Filmemacher nur dann geeignet, wenn sie mein Persönlichstes aus mir herauslockt. Dass auf diese Weise gewisse Grundmotive wiederkehren, ist nahe liegend.
Und wenn Sie den zu Ihnen passenden Stoff gefunden haben, wie wird die Vision dann in Bilder umgesetzt?
Tykwer: Die Sichtbarmachung meiner Vision hängt natürlich nicht nur von mir ab. Ich rede den ganzen Tag, aber mein Team muss das dann umsetzen. Der Film ist zwar Ausdruck einer Individualität, aber diese besteht aus ganz vielen Stimmen, die gebündelt werden müssen. Ich als Regisseur bin gewissermassen der Stimmen-Bündler. Der Kameramann Frank Griebe zum Beispiel, der bislang all meine Filme gedreht hat, das ist nicht bloss ein guter Techniker, sondern ein Bildkünstler, mit dem ich meine Projekte schon ganz früh bespreche. So setzt sich das im gesamten Team fort. Für mich wird so auch in meiner ganz konkreten Arbeit die Sehnsucht nach Symbiose erfüllt. Ganz besonders stark war das beim Schnitt zu „Heaven“ der Fall. Mit Mathilde Bonnefoy verbindet mich inzwischen eine schier grenzenlose kreative Einigkeit. Sie muss meine Fantasie genauso kennen wie ich, sie muss genauso in den Film hineinschlüpfen, muss sich das Material und die Geschichte genauso hundertprozentig aneignen wie ich. Erst dann kann sie mir Möglichkeiten aufzeigen und plausibel machen, kann sie mich mit Kürzungen peinigen, die ich zunächst kaum ertrage, und die ich dann doch als richtig erkenne.
Dann ist also der Schneideraum Schauplatz ausgiebiger künstlerischer Auseinandersetzungen?
Tykwer: Unbedingt! Wir reden beim Schnitt unglaublich viel. Mathilde meinte einmal, wir würden ja fast gar nicht schneiden, sondern nur reden. Aber das gehört natürlich zum Prozess des Schneidens dazu, dass man das Material über das Schauen, aber auch über das Gespräch vollständig durchdringt; sodass es sich schließlich wieder zu jener endgültigen Vision verdichtet, die ich ursprünglich im Kopf hatte. Dank Mathildes Insistenz, ihrem Nachfragen, ihrer starken Meinung, werde ich an den Kern dessen herangeführt, worauf es mir letztlich ankommt. Ich bin ja jemand, aus dem es oft einfach herausfließt, manchmal ein bisschen zu verquast, zu umständlich und zu ornamental. Aber als Regisseur möchte ich Dinge ohne jedes Ornament auf den Punkt bringen, weil ich überzeugt bin, dass Kunst dann besonders aufregend ist, wenn sie ohne jeden Überfluss auskommt. Und zu diesem Punkt führt mich unter anderem Mathilde während des Schneideprozesses.
Ein stiller Film
Wie umfangreich war im Falle von „Heaven“ das Material, das es zu durchdringen galt?
Tykwer: 120.000 Meter, also gut 70 Stunden. Das ist eine ganze Menge, so viel, wie ich noch nie für einen Film gedreht habe. Aber in „Heaven“ gibt es derart viele Szenen, wo schon kleinste Nuancen eine Bedeutungsverschiebung bedeuten, dass wir oft verschiedene Versionen gedreht haben, um dann beim Schnitt mehr Spielraum zu besitzen. Oder wir haben die Kamera einfach laufen lassen und während des Takes ausprobiert. Aus dieser Materialfülle mussten wir im Schnitt einen Film mit durchgängig intensiver und kohärenter Stimmung destillieren ein unheimlich diffiziler Prozess.
Besteht da nicht die Gefahr, dass man vor lauter Perfektionsdrang nicht zu einem Ende kommt so wie ja gerade Kieslowski beim Schneiden zunehmend gelitten hat?
Tykwer: Irgendwann hat mir Mathilde Bonnefoy klargemacht, dass man im Schnitt und in der Tonbearbeitung den Film im Grunde nochmals schreibt. Und weil man halt zu zweit da sitzt und nicht ständig ein riesiges Team leiten und tausend pragmatische Entscheidungen fällen muss, sieht man sich zunächst einmal kaum Zwängen ausgesetzt, außer natürlich, dass man irgendwann fertig werden muss. Das Ziel muss aber eindeutig sein, wieder dahin zu kommen, wo man den Film in meiner Vorstellung eigentlich schon einmal hatte. Ich habe noch nie aufgehört zu schneiden, bevor ich nicht wieder diese erste und gleichzeitig definitive Vision gefunden hatte. Das hat bei „Heaven“ sehr lange gedauert zehn Monate , aber ich habe schlussendlich diese Version gefunden. Vielleicht sehe ich das in ein paar Jahren ja anders, aber im Moment ist diese Fassung von „Heaven“ die optimale, die wir schaffen konnten.
Sie beschreiben „Heaven“ als ihr bislang aufwändigstes Projekt. Der fertige Film wirkt aber sehr unauffällig, fast schon schlicht. Wo liegen denn die geheimen Tücken?
Tykwer: Neben dem Schnitt stellte sich die Tonmischung als äußerst anspruchsvoll heraus, weil „Heaven“ ein so stiller Film ist. Eine lebendige, vielschichtige Stille zu erreichen, das ist unglaublich schwierig. Für „Lola rennt“ haben wir zehn Tonpreise gekriegt, aber das war ein Spaziergang im Vergleich zu „Heaven“, eben weil er viel lauter war. Und was den Schnitt betrifft, wurde mir bei „Heaven“ einmal mehr bewusst, wie wenig Verständnis man dieser Kunst nach wie vor entgegenbringt. „Heaven“ ist, was den Schnitt betrifft, mit Abstand der komplexeste all meiner Filme. Nur, beeindruckt sind die Leute immer vom Schnitt bei „Lola rennt“, weil er da halt so auffällig ist. Aber einen stimmigen Schnitt hinzukriegen, den man fast nicht mehr wahrnimmt, eben weil er so perfekt ist, das ist höchste Kunst.
Haben Sie ein konkretes Beispiel für diesen nahezu unsichtbaren Aufwand?
Tykwer: Das Schlussbild in „Heaven“ sieht ja so einfach aus und war in der Realisation mit ungeheurem Aufwand verbunden. Die Sonne und die Farben wurden tricktechnisch verändert, die Wolken waren in Südafrika aufgenommen ein Bild aus unzähligen Komponenten zusammengesetzt, unendlich lange komponiert, um schließlich genau das auszudrücken, was ich mir in meiner Fantasie vorgestellt hatte.
Mich hat diese Schlusssequenz an ein Kinderbuch erinnert, an „Serafin“ von Philippe Fix. Darin baut sich der von der Welt missbrauchte und unverstandene Serafin als letzten Ausweg mit ein paar Stufen eine unendliche Treppe in den Himmel, indem er die Stufen immer wieder hinter sich abbricht und vor sich neu ansetzt.
Tykwer: Das kommt jetzt echt überraschend. „Serafin“ ist nämlich das prägendste Bilderbuch meiner gesamten Kindheit. Gerade kürzlich habe ich ein Comic gefunden, das ich als Fünfjähriger gezeichnet und das ich ebenfalls „Serafin“ genannt hatte. Meine ungelenken Zeichnungen zeigen hauptsächlich ein Höhlensystem, in dem Serafin lebt ich war damals von höhlenhaften Räumen geradezu besessen. Als ich mir daraufhin den originalen „Serafin“ nach langer Zeit wieder einmal angeschaut habe, hat mich seine gleichzeitig heitere und melancholische Stimmung aufs Neue gepackt. Und mir wurde zudem bewusst, was für ein frappant kinematografisches Buch das ist. In einer Szene beispielsweise, fliegt ein Schmetterling durch eine U-Bahn-Station, und gezeichnet ist das wie im Storyboard, als eine fantastische Seitwärtsfahrt in „Supercinemascope“.
Auch das ist ja ein Bild, das in Ihren Filmen häufig wiederkehrt: Der Tunnel. Eines Ihrer Urbilder?
Tykwer: Ich glaube schon. Der Tunnel, durch den Philippa und Filippo in „Heaven“ fahren, ist wie ein Übergang zu einem neuen Bewusstsein. Auch „Der Krieger und die Kaiserin“ ist voller Röhren und Gänge, an deren Ende eine Erweiterung des Horizonts wartet als wäre unser ganzes Leben ein einziger Geburtsvorgang, in dem wir unaufhörlich auf ein bewussteres Leben hinsteuern. Die Bewegung vom Dunkel ins Licht ist sicher eines meiner ganz persönlichen Urbilder das natürlich in meinen Filmen auch als universelles Urbild wahrgenommen werden soll.
Ein anderes stilistisches Mittel, in das Sie geradezu verliebt sind, scheinen Kamerafahrten zu sein, mit denen Landschaften gleichsam wie eine Brailleschrift ertastet werden.
Tykwer: Ja, denn Landschaften sind doch auch Inschriften in der Natur, die man zu entziffern versucht. Wenn man beispielsweise schneebedeckte Berge von weitem sieht, wirken diese immer so gleißend und unberührt. Aber wenn dann die Kamera wie in „Winterschläfer“ über den Gletscher fährt, werden plötzlich Spalten sichtbar, die wie frisch vernarbte Wunden aussehen. Damit spiegelt sich in der Landschaft natürlich auch die Psychologie der Figuren in „Winterschläfer“ wieder, die alle sorgsam eine klare, unbelastete Oberfläche vorgeben, vielleicht subjektiv sogar glauben, unbelastet zu sein, und die doch bei näherem Hinsehen vielfach verwundet und verletzlich sind. Mich fasziniert zudem der Blick aus der Höhe, weil dann die Landschaft zu einem Muster wird und sich kleine, geschlossene Systeme, zu einem größeren System zusammenfügen, das wiederum in sich geschlossen ist, und so weiter. Der Kurzfilm „Powers of Ten“ von Charles und Ray Eames hat mich in dieser Beziehung nachhaltig beeinflusst: Zunächst wird der Ausschnitt eines Picknicks von einem Quadratmeter Größe gezeigt. Dann steigt die Kamera in Zehnerpotenzen bis in den Weltraum hinauf und danach wird die Bewegung umgedreht, bis sie nach zehn Zehnerpotenzen im Innern der Atome landet. Und das Verrückte daran: das Bild aus der größten Entfernung zeigt fast das identische Muster, wie das Bild im Zentrum der Atome. All das, was sich zwischen Zehn Zehn und Zehn Zehn abspielt, ist für mich der Grund, Filme zu machen.
Filmzitate und Reminiszenzen
Nochmals zurück zu Filmzitaten: Die manische Suche nach dem Haarwirbel in „Winterschläfer“ erinnert an „Close Encounter of the Third Kind“, die Stimmung in „Der Krieger und die Kaiserin“ an „Vertigo“, und bei „Die tödliche Maria“ denkt man unwillkürlich an „Carrie“. Drücken sich darin ihre filmischen Präferenzen aus?
Tykwer: Mit diesen Reminiszenzen geht es mir genauso wie mit den Bezügen zu eigenen Filmen: Es passiert völlig unbewusst. Bei „Die tödliche Maria“ sind mir die Parallellen zu „Carrie“ erst viel später bewusst geworden, obwohl gerade „Carrie“ ein Film war, der mich extrem geprägt hat. Damals habe ich zum ersten Mal „Film“ in seiner ganzen Gestaltungsdimension wahrgenommen: Wie man mit Bildern und Musik einen Strudel erzeugen kann, der einen nicht mehr loslässt; wie sehr dieser Film Montageprinzipien überspannt, ohne dabei den narrativen Faden zu verlieren, ohne uns aus der Geschichte herauszureißen, das ist nach wie vor meisterhaft. Als Jugendlicher war für mich das Kino so prägend, dass viele meiner Erfahrungen eine seltsame Vernetzung in die Kinowelt hinein haben, sodass ich manchmal nicht mehr genau weiß: Habe ich diese Erfahrung nun im Kino oder im wirklichen Leben gemacht? Meine kinematografische Sozialisierung wirkt, wenn man so will, aus dem Unterbewusstsein heraus inspirierend.
Und bewusste Hommagen gibt es tatsächlich nie?
Tykwer: Bei der Suche nach Motiven beziehe ich mich manchmal direkt auf filmische Vorbilder. Für die Szene in „Der Krieger und die Kaiserin“, wo Bodo vom Bus abgeholt wird, habe ich immer von Weite geredet und meinen Location Scout damit zur Verzweiflung getrieben, weil Wuppertal nun halt mal hügeliges Land ist. Irgendwann habe ich ihm dann erklärt, ich bräuchte etwas wie in der legendären Maisfeldszene in „North by Northwest“; und dann hat er genau das gefunden, was ich mir erträumt hatte. Natürlich hat dann die gesamte Szene Hitchcock-Touch gekriegt sozusagen „North by Northrhine-Westfalia“. Aber eigentlich finde ich direkte Filmzitate lästig, weil sie mich immer wieder aus dem Fluss der Geschichte herausreißen.
Bei „Heaven“ werden Sie nun aber zwangsläufig mit Kieslowski und dessen Regiestil verglichen. Wie ist es dazu gekommen, dass sie ein Drehbuch von Kieslowski verfilmt haben?
Tykwer: Als das Buch auf meinem Tisch lag und ich die Namen der Autoren las, sagte ich mir: „Okay, das will ich unbedingt lesen, aber verfilmen werde ich es ganz sicher nicht. Ich will keinesfalls als derjenige in die Filmgeschichte eingehen, der die Hinterlassenschaft von Kieslowski in den Sand gesetzt hat.“ Aber als ich dann zu lesen begann, hatte ich nach zehn Seiten das überwältigende Gefühl, als würde ich einen eigenen Stoff lesen. Ich kannte mich darin sofort aus, sah Gesichter vor mir, Bilder, Atmosphären, hatte sogar schon klare Besetzungsvorstellungen endlich einmal ein Stoff, den ich zwar offensichtlich nicht selbst schreiben konnte, der mir aber dennoch zutiefst vertraut schien, und für den ich bereit war, die nächsten zwei Jahre meine ganze Substanz und Kreativität aufzubringen. Damit hatte ich eine Art von Unbefangenheit zurückgewonnen, die es mir möglich machte, den Film als mein eigenes Projekt zu betrachten, ohne dabei die großen Drehbuchautoren zu missachten. Ich verehre Kieslowski sehr, er ist für mich so etwas wie der Übervater aller Autorenfilmer, aber wenn ich deswegen in Ehrfurcht erstarrt wäre, dann wäre aus „Heaven“ nie ein eigenständiger Film geworden. Deshalb war für mich von Anfang an klar, dass ich den Film nur mit X-Filme und einer eingespielten Crew, mit Frank Griebe und mit Mathilde Bonnefoy machen wollte. Anders wäre es für mich nicht möglich gewesen, meine ureigene Stimme zu artikulieren und so nicht von der Mythos-Last erdrückt zu werden. Krzysztof Piesiewicz hat sich in diesen Prozess überhaupt nicht eingemischt, aber natürlich habe ich ihn getroffen und ihm den Film gezeigt. Und er hat mir das größtmögliche Kompliment gemacht: „Dieser Film ist das Beste aus beiden Welten.“
Für die Filmmusik haben Sie Stücke von Arvo Pärt verwendet. Hatte das inhaltliche oder gar ideelle Gründe?
Tykwer: Die Verknüpfung Kieslowskis mit Pärt ist überhaupt nicht programmatisch gedacht und hat nichts mit etwaiger Glaubensrichtung oder theologischen Überlegungen zu tun. Wir gingen ganz einfach nach ästhetischen Gesichtspunkten vor. Mein Regieassistent Sebastian Fahr hatte mir eine Platte von Pärt vorgespielt, die gerade herausgekommen war, als wir mit den Vorbereitungen zu „Heaven“ begannen, und ich fand damals die Musik zwar außerordentlich schön, dachte aber gleichzeitig, dass sie mir fast zu sehr den Film widerspiegelte. Ich mag Filmmusik nicht, die den Film dupliziert oder kommentiert, sie soll vielmehr vertiefend wirken. Aber als wir dann am Schnitt saßen, hatten wir das dringende Bedürfnis, gewisse Szenen mit Musik zu unterlegen, weil man so leichter ein Gespür für Strukturierung und Rhythmus erhält. Weil ich noch keine Zeit gehabt hatte, Layouts zu machen, legten wir halt die Musik von Pärt ein, immer noch in der Meinung, sie nur behelfsmäßig zu verwenden. Dann merkten wir, dass seine Musik die Bilder eben tatsächlich tiefer machte, dass sich beides auf geradezu wundersame Weise vereinigte und uns zudem sofort klar wurde, wo der Film noch unpräzise war. Da wussten wir natürlich augenblicklich, dass wir niemals etwas anderes finden würden, was mit dieser Musik konkurrieren konnte.
Experiment der Stille
„Heaven“ ist ein sehr stiller und ruhiger Film. Ist das nicht ein Wagnis, bei den heutigen Sehgewohnheiten?
Tykwer: Ich sehe es als Verpflichtung, dass sich der Film und seine Form der Entwicklung seiner Figuren unterordnet. Deshalb war mir auch klar, dass es ein ruhiger Film, ja ein eigentliches Experiment in Stille sein musste. Selbstverständlich versuche ich aber, die Zuschauer zu dieser Ruhe hinzuführen, denn „Heaven“ beginnt zwar wie ein Thriller, aber dann wird bald klar, dass in diesem Film nicht alles so sein wird, wie man es zunächst erwartet; und dann baut der Film zum Schluss hin eine Sinnlichkeit auf, die man am Anfang doch sehr vermisst hat. Aber es stimmt schon, ich erwarte von den Zuschauern, dass sie den Figuren genauso folgen wie ich und nicht nur ihr Spaßbedürfnis befriedigt haben wollen.
Regisseure werden gerne eingeteilt in solche, denen die Konzeption über alles geht, wie beispielsweise Alfred Hitchocock, und solche, für die die Schauspieler das Maß aller Dinge sind, wie beispielsweise Mike Leigh. Was möchten Sie sein: ein Konzept- oder eine Schauspieler-Regisseur?
Tykwer: Beides! Mir ist wirklich beides gleichermaßen wichtig. Die Form entwickelt sich aus den Charakteren und andererseits müssen Charaktere visualisierbar sein. Form empfinde ich deshalb nie als Korsett sondern als die Suche nach dem adäquaten visuellen Ausdruck für eine Geschichte und ihre Personen. Ein Film, in dem die Schauspieler so befreit spielen wie bei Mike Leigh und gleichzeitig die Form so entfesselt ist wie bei Hitchcock, das ist mein Ideal.
© Thomas Binotto